Liebe zwischen Kairo und Casablanca

Der Autor Mohamed Amjahid hat Liebe und Begehren zwischen Kairo und Casablanca untersucht.
Der Autor Mohamed Amjahid hat Liebe und Begehren zwischen Kairo und Casablanca untersucht.

In seinem neuen Buch schreibt der Berliner Journalist Mohamed Amjahid humorvoll und sehr intim über Liebe und Begehren zwischen Casablanca und Kairo. Melanie Christina Mohr hat das Buch für Qantara.de gelesen.

Von Melanie Christina Mohr

Auf der vorletzten Seite seines Buches schreibt Mohamed Amjahid, eine arabische Floskel besage, dass es im Glauben keine Scham gäbe. Der Satz liest sich ein bisschen wie die Absolution für die letzten 218 Seiten, in denen der Autor nichts ausgespart und kein Blatt vor den Mund genommen hat. Warum auch? Im Prolog lernt die aufmerksame Leserschaft, dass die von Amjahid beschriebenen Erlebnisse der Menschen, denen er begegnet ist, mit denen er aufgewachsen ist, mit denen er ein paar Monate, ein paar Stunden verbracht hat, eben genau so passiert sind, ihm genau so berichtet wurden.



Manche Anekdoten sind überraschend und ernüchternd, andere humorvoll und berührend, aber sie sind vor allem ein Teil der Wirklichkeit. Sie gehören zu einer Realität, die sich jenseits religiöser und gesellschaftlicher Normen abspielt, die Menschen nicht selten unter Druck setzen und Gefahren ausliefern, sie aber auch erfinderisch werden lassen. Amjahid schreibt über gefährliche Schwangerschaftsabbrüche und die kollektive Jagd auf schwule Männer, anstrengenden Sex, Internet-Dating und das Leben in Friseursalons. In einem davon hat er seine ganze Jugend verbracht. Und alle diese geschilderten Erlebnisse machen dieses persönlich erzählte Sachbuch aus – es liest sich erfrischend ehrlich.  

Der coole Salafist

"Ist diese Offenheit cool oder problematic?", fragt Mohamed Amjahid, als es in dem Kapitel "Der coole Salafist“ um seinen Bekannten Mohammed geht, der einerseits streng nach den Geboten des Islam lebt und andererseits mit seinem Kumpel, einem schwulen Zahnarzt, seine Zeit verbringt.

Dieser wiederum ist mit einer Frau verheiratet, die unbedingt ins Paradies kommen möchte und die Liaison als Chance sieht, "einen Mann vor der Lebensweise des Volkes von Lot aus dem Koran“ zu retten. Das hört sich ein bisschen an wie in einem Film, aber nur, weil wir häufig mit den immer gleichen Narrativen und Lebensentwürfen konfrontiert werden (wollen).

Buch Cover - Mohamed Amjahid: Let's Talk About Sex, Habibi - Liebe und Begehren von Casablanca bis Kairo. Piper Verlag, München 2022. 224 Seiten, 18 Euro. (Foto: Piper Verlag) 
Geschichten über das Liebesleben der Araber: Manche Anekdoten sind überraschend und ernüchternd, andere humorvoll und berührend, aber sie sind vor allem eins, ein Teil der Wirklichkeit. Sie gehören zu einer Realität, die sich jenseits religiöser und gesellschaftlicher Normen abspielt, die Menschen nicht selten unter Druck setzen und Gefahren ausliefern, sie aber auch erfinderisch werden lassen. Amjahid schreibt über gefährliche Schwangerschaftsabbrüche und die kollektive Jagd auf schwule Männer, anstrengenden Sex, Internet-Dating und Friseursalons, in einem davon hat er seine ganze Jugend verbracht. Und alle diese geschilderten Erlebnisse machen dieses persönlich erzählte Sachbuch aus – es liest sich erfrischend ehrlich.  



Aber um Amjahids Frage zu beantworten, diese Offenheit ist natürlich cool, weil sie guttut und den Kopf geraderückt, Klischees und Stereotype in den Hintergrund treten lässt und demontiert. Die Offenheit des Salafisten liegt jenseits unserer Annahmnen, jenseits dessen, was wir als vermeintliche Wahrheit abgespeichert haben. Und je öfter wir von solchen Erlebnisse hören oder dieser Wirklichkeiten zur Kenntnis nehmen, desto mehr verschieben sich Perspektiven, können wir andere Realitäten in unsere Normalität aufnehmen. 

Haram-TV, Tele-Imame und Pornos 

In Deutschland gibt es Bibel TV, einen Sender, der 24 Stunden am Tag Predigten und Ratgebersendungen ausstrahlt. So ähnlich, nur um ein Vielfaches erfolgreicher kann man sich vielleicht die Sendungen der Tele-Imame Ende der 1990er Jahre im arabischsprachigen Fernsehen vorstellen, von denen Amjahid berichtet. Sein Vater, ein Fan von Iqra, dem populärsten religiösen Sender seiner Zeit, war aber auch "Haram-TV" nicht abgeneigt.

"Haram-TV" ist kein Fernsehsender, sondern beschreibt die Praxis, sich beim TV- und Filmrepertoire aus Hollywood, bei dem sich Männer und Frauen ab und an wilde Küsse zuwerfen und auch ein bisschen mehr, auszublenden, wenn es moralisch bedenklich wird. Besonders wichtig war es für seinen Vater, so Amjahid, die Fernbedienung in greifbarer Nähe zu wissen, damit er just im richtigen Moment, also wenn es zu intim wurde, blitzschnell das Programm wechseln konnte.

Im Laufe des Buches wird deutlich, das wir alle Sex, je nachdem, wo wir geboren oder aufgewachsen sind, unterschiedlich konsumieren und unser Begehren auf unterschiedliche Weise ausleben oder eben auch nur bedingt ausleben können. Das hängt davon ab, wie wir sozialisiert wurden und unter welchen Umständen wir leben. Aber begehren tun wir alle. Wenn in Kairo das Mobilfunknetz regelmäßig um Mitternacht zusammenbricht, weil fleißig Pornos geschaut werden, dann liegt das nicht daran, dass der Pornokonsum in Kairo per se höher wäre als beispielsweise in Berlin, sondern vermutlich einfach nur am schlechten Netz.  

Der Autor und Journalist Mohamed Amjahid; Foto: Antoine Midant/Piper Verlag
Der Berliner Journalist Mohamed Amjahid hat einen Blick in die arabischen Schlafzimmer geworfen. Natürlich erhebt er keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Denn letztlich lieben und begehren wir doch alle auf unsere individuelle Art und Weise, egal ob in Nordafrika, im Nahen Osten oder Europa. "Let’s Talk About Sex, Habibi“ besticht durch Authentizität und hat definitiv seinen Platz im Bücherregal verdient. 

Fehlende Privatsphäre

"Eines der größten Probleme für viele Nafris (Nordafrikaner, Anm. der Redaktion), die einfach nur Sex haben wollen, ist die (fehlende) Privatsphäre“, schreibt Amjahid. Wer sich aus finanziellen Gründen keinen eigenen Wohnraum leisten kann, lebt mit der ganzen (Groß)Familie, oftmals mit mehreren Generationen unter einem Dach, und das betrifft auch Menschen aus der Mittelschicht.

Es gilt also, kreativ zu werden, um sich eine Privatsphäre zu schaffen: Ausreden zu spinnen, warum man nicht zur Hochzeit von XY mitkommen kann, Abschlussprüfungen aufzubauschen, für die man angeblich Tag und Nacht pauken muss.



Aber es bedarf nicht nur privat geschützter Räume in Nordafrika, um Sex zu haben, sondern auch um sich offen austauschen zu können. Frauen, insbesondere wenn sie autoritäre Ehemänner haben, nutzen regelmäßige Treffen bei Nachbarinnen. Unter dem Vorwand der Koranlektüre geht es den Frauen bei diesen Treffen vor allem darum, unter sich zu sein, offen sprechen zu können, nicht nur, aber eben auch über Sex. 

"Let’s Talk About Sex, Habibi” ist geradeheraus geschrieben und mit unzähligen Anglizismen gespickt. Aber auch wem das too much sein sollte, der kann sich sicher sein, dass die Horizonterweiterung durch das Buch dieses Defizit wieder ausbügelt. Dabei setzt Amjahid, trotz der Leichtigkeit, mit der er erzählt, bei der Leserschaft einiges voraus.

Hier und da hätten Erläuterungen oder Einordnungen mehr Klarheit geschaffen, beispielsweise wenn es um "Salafisten“ geht oder ein "salafistisches Kaufhaus“, das im nächsten Satz als ein "islamischer Karstadt“ bezeichnet wird. Denn Begrifflichkeiten, die politisch aufgeladen und mit festgeschriebenen Assoziationen verknüpft werden, laden zu Missverständnissen ein.



So wird etwa der Begriff "Salafismus“ oder "Salafisten“ in Deutschland hauptsächlich vom Verfassungsschutz unter Sicherheitsaspekten benutzt. Amjahid dagegen beschreibt das durchaus widersprüchliche Innenleben von Salafisten. Hier wäre etwas mehr Einordnung hilfreich gewesen. 

Zum Schluss hält Mohamed Amjahid fest, dass er natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Denn letztlich lieben und begehren wir doch alle auf unsere individuelle Art und Weise, egal ob in Nordafrika, im Nahen Osten oder in Europa. "Let’s Talk About Sex, Habibi“ besticht durch Authentizität und hat definitiv seinen Platz im Bücherregal verdient. 

Melanie Christina Mohr

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