Das Ringen um koranische Prinzipien
Eheschließung, Scheidung, Erbrecht: Marokko wartet auf eine Reform des Familienrechts. Vor der Sommerpause hatte der König Vorschläge an die islamischen Rechtsgelehrten übergeben, damit sie die Kohärenz der Reform mit koranischen Prinzipien prüfen. Wann genau sie nun kommt, ist noch unklar. Den 10. Oktober hält die Frauenrechtlerin Ghizlane Mamouni für „ein günstiges Datum für die Verabschiedung der Reform”. Dann findet die erste Sitzung des Parlaments nach dem Sommer statt. Gleichzeitig markiert das Datum den 20. Jahrestag der ersten Reform des Familienrechts.
Mamouni ist Anwältin und setzt sich mit der Organisation Kif Mama, Kif Baba („Wie die Mutter, so der Vater“) und anderen feministischen Organisationen für die Änderung des Familienrechts, der sogenannten moudawana, ein. Sie kritisiert die Rolle der Religionsgelehrten: „Wir hatten gehofft, dass die ulema nicht Teil des Reformprozesses sind”, sagt Mamouni gegenüber Qantara. „Wir möchten, dass der zukünftige Familienkodex von religiösen Überlegungen unabhängig ist, wie es bei den meisten Gesetzestexten in Marokko bereits der Fall ist.“
Wenn die ulema, die im Hohen Rat der religiösen Würdenträger zusammengeschlossen sind, ihre Einschätzung abgegeben haben, muss der König die Reform zunächst annehmen. Dann erst stimmt das Parlament ab. „Wir haben kaum Einblicke in den Ablauf des Reformprozesses“, bedauert Mamouni in Hinblick auf die feministische Zivilgesellschaft.
Der König versucht den Spagat
Seit 2018 werben marokkanische Aktivist*innen für eine Reform des Familienrechts. Das 1956, nach der Unabhängigkeit von Frankreich, verabschiedete Gesetz war 2004 erstmals reformiert worden. Nach wie vor beinhaltet es jedoch Grauzonen. 2022 kündigte König Mohammed VI. eine weitere Reform an, um das Familienrecht mit dem Gleichstellungsgrundsatz der Verfassung von 2011 und mit internationalen Abkommen in Einklang zu bringen. Auch soll die Reform auf den gesellschaftlichen Wandel wie die zunehmende Emanzipation der Frau reagieren.
Der König ist sich jedoch bewusst, dass er die Kräfte im Land austarieren muss: „Ich kann nicht erlauben, was Gott verboten hat, nicht verbieten, was der Allmächtige erlaubt hat. Vor allem, wenn es in Korantexten festgelegt ist”, stellte er in seiner Thronrede 2022 mit Blick auf die einflussreichen islamisch-konservativen Kräfte klar. Seit Herbst 2023 arbeitet nun eine Kommission Reformvorschläge aus. Das Gremium besteht neben den religiösen Würdenträgern aus Vertreter*innen des Justiz- und des Familienministeriums, der Justiz, des Nationalen Menschrenrechtsrats und der Staatsanwaltschaft.
Nach 130 Anhörungen von Parteien, Wissenschaftler*innen, Gewerkschaften und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft präsentierte die Kommission dem König im März 2024 Reformvorschläge, die bisher nicht öffentlich sind. Die Onlinezeitung Hespress berichtete aber im Juli von ihren Einblicken in die Unterlagen, die Eheschließung und Eheleben, Scheidung, Sorge- und Erbschaftsrecht betreffen.
Was schlägt die Kommission vor?
Den Berichten zufolge hat die Kommission in Sachen Eheschließung vor allem die Ehe von Minderjährigen diskutiert. Bereits 2004 wurde diese verboten, allerdings können durch richterliche Genehmigungen weiterhin Ausnahmen gewährt werden. Die Zahl der Eheschließungen mit Minderjährigen erhöhte sich zwischen 2004 und 2011 sogar stark, von rund 18.300 auf knapp 40.000. Die Kommission empfiehlt daher ein Verbot ohne Ausnahmen wie im Nachbarland Tunesien.
Außerdem hat die Kommission vorgeschlagen, Eheschließungen weniger bürokratisch zu gestaltet und auch marokkanischen Frauen die Ehe mit Nicht-Muslimen zu erlauben. Feministische Organisationen wie Kif Mama, Kif Baba haben darüber hinaus – ebenfalls wie in Tunesien – die konsequente Abschaffung der Polygamie gefordert, die nach aktuellem Recht in Ausnahmen erlaubt ist.
Auch das Eheleben soll Gegenstand der Reform sein. Die Kommission schlägt vor, dass nicht wie bisher der Ehemann, sondern der besserverdienende Ehepartner für die gemeinsamen Ausgaben Verantwortung übernimmt. Außerdem steht zur Debatte, beide Eheleute gleichermaßen zur Aufsicht und Erziehung der Kinder zu verpflichten. In diesen Punkten decken sich die Empfehlungen mit den Forderungen von feministischer Seite.
Heiß debattiert werden die Regeln zu Scheidungen in der moudawana. Die Kommission spricht sich hier für die Gleichstellung von Mann und Frau aus, denn bisher existieren unterschiedliche Arten der Scheidung. Praktiziert werden hauptsächlich talaq sowie talaq al-shaqaq. Beim talaq-Verfahren kann sich der Ehemann unilateral und ohne Begründung für eine Scheidung entscheiden.
Frauen können seit 2004 ihre Scheidung zwar mit einem talaq al-shaqaq-Prozess einleiten, müssen dabei allerdings Begründungen vorlegen. Von feministischer Seite wird die vorgeschlagene Gleichberechtigung begrüßt, zusätzlich aber ein Versorgungsausgleich nach der Scheidung gefordert, da der Großteil der marokkanischen Frauen kein eigenes Vermögen aufbauen kann und nach einer Scheidung oft mittellos dasteht.
Im Erbrecht möchte die Kommission entscheidende Änderungen sehen. Neben dem bisherigen, von islamischen Prinzipien abgeleiteten Erbrecht soll die Vererbung zukünftig auch per Testament geregelt werden dürfen. Aktuell gibt es eine festgelegte Erbfolge, bei der Ehepartner und Kinder die direkten Erben sind. Söhne bekommen das Doppelte der Töchter und falls unter den direkten Erben keine Männer sind, werden die nächsten männlichen Verwandten beteiligt – ebenfalls mit dem doppelten Anteil weiblicher Erbinnen.
Interessant ist, dass 2022 nur 36 Prozent der Marokkaner*innen eine Reform des Erbrechts für nötig hielten, so eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), der Association des Femmes Marocaines pour la Recherche et le Développement (AFRMARD) und der Organistation Marocaine des Droits Humains (OMDH).
"Die Idee männlicher Dominanz ist in der Krise“
Die algerische Soziologin Fatma Oussedik hat mit ihren umfangreichen Forschungen gezeigt, wie sehr sich Familienbilder und Geschlechterrollen in dem nordafrikanischen Land im Wandel befinden.
Religion hat noch immer großen Einfluss
Nicht alle Forderungen von Ghizlane Mamouni und ihren Mitstreiter*innen finden sich in den Reformvorschlägen wieder. Die Feminist*innen setzen sich für die Unterstützung alleinerziehender Mütter ein, denn abgesehen von oft prekären Lebensumständen können diese selbst ihre gesetzlich festgeschriebenen Unterhaltsansprüche nicht konsequent einfordern, wenn der Vater nicht freiwillig bezahlt.
Außerdem fordern die Aktivist*innen, dass Sorgerecht und Vormundschaft zusammen verhandelt werden. Das Sorgerecht für Kinder betrifft Erziehung und Aufsicht im Alltag, die rechtliche Vormundschaft ist für administrative oder finanzielle Angelegenheiten relevant.
„Die aktuelle Regelung weist das Sorgerecht der Mutter und die Vormundschaft dem Vater zu, was dem Wohl des Kindes widerspricht. Wir fordern, dass die Vormundschaft dem Sorgerecht folgt und beiden Elternteilen oder dem Elternteil, der am besten für die Kinder geeignet ist, erteilt wird“, erklärt Mamouni. Dies scheint die Kommission allerdings nicht zu empfehlen. Immerhin formuliert sie aber das Anrecht von unehelichen Kindern auf den Familiennamen des Vaters, ohne den Kinder oft große Probleme mit den Behörden haben, zum Beispiel bei der Schulanmeldung.
Für Mamouni ist Artikel 400 der moudawana die Wurzel der rückständigen Familiengesetzgebung in Marokko. Er erlaubt Richtern religiöse Argumentationen und macht koranische Prinzipien zur Rechtsgrundlage. Auch deswegen ist die Abschaffung des Artikels eine zentrale Forderung von Kif Mama, Kif Baba und anderen Organisationen.
Im Erbrecht ist zum Beispiel das koranische Prinzip der qiwama relevant, die Vormundschaft der Männer für die Frauen der Familie. Mamouni kritisiert an diesem Beispiel eine selektive Anwendung koranischer Prinzipien. „Nur der Teil der Regel, der den Männern am besten passt, wurde übertragen: die Ungleichheit beim Erben. Die Bedingung dafür, ebenfalls aus der qiwama, jedoch nicht: Kein Gesetz erlaubt mir, meinen Bruder, meinen Onkel oder den Staat zu verklagen, wenn er nicht für alle meine Bedürfnisse sorgt“, erläutert sie. „Dies zeugt von einer eklatanten intellektuellen Unehrlichkeit zum Nachteil der Frauen, die heute nicht mehr akzeptabel ist.“
In sozialen Medien entbrennt die Debatte
Die feministischen Kampagnen rund um die aktuelle Reform konnten bislang nicht die gleiche Reichweite entwickeln wie jene anlässlich der ersten Reform 2004, sagt Latifa Benwakrim, Mitglied des marokkanischen Rats für Wirtschaft, Soziales und Umwelt (Conseil Economique, Social et Environnemental, CESE), im Gespräch mit Qantara. „Abgesehen von einer Kampagne in den sozialen Medien verfolgen die Befürworter*innen der Reform einen eher akademischen Ansatz. Diese Strategie ist zwar wertvoll, um das Bewusstsein einer Elite zu schärfen, konnte aber keine Mobilisierung der breiten Bevölkerung bewirken.“
So entstand eine Lücke, die prompt Reformgegner*innen besetzten, die unter anderem durch Falschinformationen Stimmung gegen die Reform machten. „Konservative und islamistische Gruppen befürchten, dass die Reform von den traditionellen islamischen Geboten abweichen könnte, besonders in Bezug auf Erbschaft und Polygamie”, sagt Benwakrim. „Sie haben die Änderungsvorschläge vehement in Frage gestellt, weil sie sie als Bedrohung der bestehenden Gesellschaftsordnung ansehen.“
Die von Benwakrim erwähnte Kampagne nutzte den Hashtag #moudawanakantsana, auf Deutsch: „Die Moudawana, auf die ich warte“. Die Kampagne hatte um den internationalen Frauentag am 8. März an Fahrt aufgenommen. Gleichzeitig organisierten marokkanische Feminist*innen Konferenzen und Sit-Ins, um ihre Forderungen inhaltlich weiter zu schärfen. Die digitale Kampagne war insofern erfolgreich, als dass es viele ermutigende Reaktionen sowie konstruktive Kritik gab.
Auf der #moudawanakantsana-Instagramseite wurde damals aber auch eine Liste von 22 angeblichen „Feindinnen des Islams“ gepostet, allesamt feministische Aktivist*innen. Auch Mamounis Name stand darauf. Einige der Frauen erhielten daraufhin Morddrohungen mit Anspielungen auf das Charlie-Hebdo-Attentat 2015 in Paris. Selbst Kinder der Aktivist*innen wurden bedroht. „Die Drohungen zielen darauf ab, uns zum Schweigen zu bringen. Aber letztendlich hat noch niemand aufgegeben“, schließt Mamouni das Gespräch. Die Hoffnung ist groß, dass sich das Ringen um die eigenen Rechte in der finalen Reform niederschlägt.
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