"Unsere Kämpfe sind nicht nur individuelle Probleme"
Frau Aydemir, als ihr neuer Roman "Dschinns“ (deutsch: Geister) angekündigt wurde, habe ich in den sozialen Medien vor allem lustige Kommentare zum vermeintlich gruseligen Titel gelesen. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Fatma Aydemir: Als ich wusste, dass das Buch "Dschinns“ heißen wird, habe ich gar nicht an die Reaktionen gedacht. Aber ich fand den Titel selbst schon ein bisschen gruselig. Es macht schon was mit einem, wenn man sich Abend für Abend mit dem Thema Dschinns befasst. Dabei ist mein Roman ja gar keine Geistergeschichte. Die Kommentare fand ich witzig. Zum Beispiel dieses "tövbe“ (deutsch: Reue) oder die vielen "Nazar-Emojis“ (deutsch: Böser Blick) unter meinen Posts.
Im Türkischen versucht man, das Wort erst gar nicht auszusprechen und das ist ein schönes Motiv, weil es in meiner Geschichte auch um Dinge geht, die nicht ausgesprochen werden, die im Verborgenen bleiben. Gleichzeitig war es mir wichtig, dieses Wort auszuschreiben und mit dieser Angst zu brechen, die viel mit Nichtwissen und Aberglauben zu tun hat. Dschinns sind ja nicht grundsätzlich etwas Böses. Aber Menschen haben immer Angst vor dem, was sie selbst nicht sehen können.
"Dschinns“ erzählt die Geschichte einer Familie aus den verschiedenen Perspektiven ihrer Mitglieder. Wie sind Sie vorgegangen, um diese Geschichte so zu erzählen und vor allem die verschiedenen Ebenen zu schaffen?
Aydemir: Am Anfang hatte ich nur das Kapitel über Hüseyin, das Familienoberhaupt. Während ich mich gefragt habe, wer diese Figur ist und wie ich die Geschichte weitererzählen will, kam mir die Idee, die Familie Kapitel für Kapitel durchzugehen und jedem Mitglied eine eigene Perspektive zu geben. Das stand dann als Struktur. Beim Schreiben selbst habe ich dann gemerkt, dass das nicht so einfach ist, da die Figuren unterschiedliche Beziehungen zueinander haben, es wurde immer komplizierter. Ich habe dann alles beiseite gelegt und mir das Ganze so vorgestellt wie eine Mauer aus Ziegelsteinen. In dieser Mauer waren Lücken, die ich vergessen hatte zu füllen. Also bin ich zurück an diese Textstellen und habe Sachen rausgeschmissen. Was krumm war, habe ich neu geschrieben.
Ein Roman ist kein politisches Statement
Vor ein paar Jahren haben Sie mit Hengameh Yaghoobifarah den Sammelband "Eure Heimat ist unser Albtraum“ herausgegeben und der Titel funktioniert bis heute als Statement. Auch in "Dschinns“ ist das Deutschlandbild eher düster, was deutschsprachige Kritiken auch aufgreifen wird. Stört Sie das?
Aydemir: Ich habe nichts dagegen, wenn der Sammelband "Eure Heimat ist unser Albtraum" in Kritiken und auf Veranstaltungen erwähnt wird oder aus meinen alten Kolumnen zitiert wird. Aber manchmal wird das alles in einen Roman hineingelesen, der eine ganz andere Geschichte erzählt. Dazu noch eine fiktionale. Mich ärgert schon, wenn man alles vermischt und mein Roman nur unter diesem einen Aspekt gelesen wird. "Deutschland“ an sich oder "die Deutschen“ spielen ja keine so große Rolle in "Dschinns“. Migration spielt eine Rolle, ja.
Aber wie seltsam ist es bitte, wenn sich Leute allein am Deutschlandbild abarbeiten, oder zählen, wie viele deutsche Figuren in einer Geschichte vorkommen und wie gut oder schlecht sie wegkommen? Was ist das für ein Zugang zu Literatur? Ich finde, das sagt mehr über die Leute aus als über meine Arbeit.
Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass die Mehrheit der Kritiker weiß ist? Wie bewegt man sich denn als nicht-weiße Person im Literaturbetrieb? Sie sind auch Redakteurin bei der taz. Wie arbeitet man mit weißen Kollegen, Lektoren zusammen, vor allem wenn man Geschichten aus einer nicht-weißen Perspektive erzählt?
Aydemir: Ein guter Roman funktioniert universell. Da sollte es egal sein, woher man kommt, welchen sozialen Hintergrund eine Autorin oder ein Autor hat. Man findet immer einen Zugang, wenn es einen berührt. Mein Lektor ist ein weißer cis-hetero-Mann, mit ihm hatte ich schon an meinem Debütroman "Ellbogen“ zusammengearbeitet. Er ist wahnsinnig gut, weil er ein gutes Auge hat und sich auf Texte einlässt. Es hilft auch, jemanden an der Seite zu haben, der weit weg von der eigenen Realität ist, denn er stellt beim Lektorieren Fragen, auf die ich selber nie gekommen wäre. Mir ist es auch wichtig, dass mein Text für möglichst viele Menschen lesbar ist. Man muss nicht Hüseyin oder Emine heißen, um die Sorgen dieser Figuren zu verstehen.
Schreiben Sie also nicht für eine bestimmte Leserschaft?
Aydemir: Ich bin meine eigene erste Leserin. Das ist das einzige, was ich leisten kann. Ich schreibe, was ich selbst gerne lesen würde und glaube, damit eine recht diverse Leserschaft zu erreichen. Ich habe mit einer Buchhändlerin aus Franken gesprochen, die in Emine, also der Mutter-Figur im Roman, ihre eigene Mutter wiedererkannt hat. Und dann gibt es auch Leser, die mich verblüfft fragen, ob türkische und kurdische Familien wirklich so streng patriarchal oder queerfeindlich sind. Dabei muss man sich bloß die Top-Meinungsmacher in Deutschland anschauen, um zu sehen, wie es um emanzipatorische Diskurse in Deutschland steht.
Alle Figuren werden von inneren Dämonen verfolgt
Ihr Roman greift viele verschiedene Themen auf. In Kritiken liest man dann, er wäre zu ambitioniert. Ist das fair?
Aydemir: Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Roman viele Themen behandelt. Jeder historische Roman macht das. Und ja, auch ich habe mir die Frage gestellt, ob es vielleicht zu viel wäre. Aber wenn du eine Geschichte aus sechs verschiedenen Perspektiven erzählst, dann stecken da eben sehr viele Aspekte drin. Möglicherweise habe ich einfach einen Hang zur Überforderung. Ich mag Geschichten, in denen hundert weitere Geschichten versteckt sind.
Ich möchte noch eine Frage zu Emine stellen. In "Dschinns“ gibt es einen kleinen Moment, in dem die strenggläubige Mutter an ihrem Glauben zweifelt. Warum war Ihnen das wichtig gegen Ende des Romans? Haben Sie bewusst die ältere Generation religiöser als die Jüngeren dargestellt?
Aydemir: Ich habe viele religiöse Menschen in meinem Umfeld, ich würde mich selbst zwar nicht als religiös bezeichnen, aber ich lehne das auch nicht grundsätzlich ab. Ich finde es interessant, gläubige Menschen zu beobachten und mich mit ihnen zu unterhalten. Und ich bin davon überzeugt, dass gläubige Menschen auch immer mit ihrem Glauben hadern. Man kann nicht sein ganzes Leben nach einer Sache ausrichten und niemals daran zweifeln.
Ich selbst handle zwar nicht nach religiösen Prinzipien, aber natürlich gibt es ethische und politische Werte, die mir wichtig sind. Und diese verändern sich auch mit der Zeit, weil ich sie hinterfrage und für mich neu verhandeln muss, weil ich Fehler mache. Auch die Figur Emine muss vieles für sich neu verhandeln. Deswegen war es mir wichtig, diesen Bruch von Emine spürbar zu machen. Es ist am Ende der Bruch, der sie lebendig macht.
Sie schreiben über einen rassistisch motivierten Brandanschlag und über Racial Profiling (ein Polizeihandeln, das auf rassistischen Stereotypen beruht, Anm. der Redaktion). Außerdem ist das Buch zum zweiten Jahrestag des Anschlags von Hanau erschienen - haben wir in all den Jahren überhaupt Fortschritte beim Thema Rassismus oder Rechtsextremismus in Deutschland gemacht?
Aydemir: Ich glaube der größte Fortschritt liegt darin, dass diese Themen viel mehr Platz im Mainstream einnehmen als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Der antirassistische Diskurs ist heute viel zugänglicher. Das hat viel mit den sozialen Medien zu tun, aber auch mit einer sich verändernden Medienbranche. Ich kann in meiner taz-Kolumne diese Themen aufgreifen, meine Eltern konnten das nicht. Oder ich kann eben in meinem Roman von Racial Profiling oder Brandanschlägen erzählen. Natürlich stößt das auch heute noch auf Widerstand, vor allem Kritik an Polizeigewalt. Hakan, in dessen Kapitel es um eine gewalthafte Begegnung mit der Polizei geht, ist übrigens die Figur, an der sich die meisten Leser stören. Ich frage mich, ob das Zufall ist.
Armin Kurtović, der Vater des Hanau-Opfers Hamza Kurtović, sagte, er hätte erst nach dem Tod seines Sohns verstanden, was rassistische Polizeikontrollen mit einem jungen Menschen machen können.
Aydemir: Das ist sehr traurig. Aber es sind manchmal eben auch die eigenen Eltern, die Rassismuserfahrungen kleinreden oder nichts von ihnen hören wollen, weil sie keinen Platz in ihrem Selbstverständnis und ihrem Weltbild haben. In "Dschinns“ ist das ja ähnlich zwischen Hakan und seinem Vater Hüseyin. Der Vater möchte nicht hören, wie sein Sohn Opfer eines Übergriffs geworden ist, weil ihm das die eigene Ohnmacht vor Augen führt.
Ich denke, die Stärke der jüngeren Generationen liegt darin, dass wir mehr über Rassismus sprechen. Wir wissen, dass unsere Kämpfe eben nicht nur individuelle Probleme sind, sondern kollektive Kämpfe. Wir sind nicht mehr allein damit.
Das Interview führte Schayan Riaz.
© Qantara.de 2022
Fatma Aydemir, "Dschinns", Carl Hanser Verlag, München 2022