Verdrängt und doch präsent
Im Schatten des Ukraine-Krieges hat sich die Welt mit einem Konflikt arrangiert, der für Deutschland teuer und folgenreich ist: der Krise in und um Syrien. Berlin gibt Jahr für Jahr eine Milliarde Euro für die Syrien-Hilfe der Vereinten Nationen aus, doch noch immer stellen Syrerinnen und Syrer die meisten Erstanträge auf Asyl. Die Tatsache, dass es den Menschen in Syrien so schlecht geht wie noch nie, sollte die Verantwortlichen wachrütteln.
Die Lage ist katastrophal. 90 Prozent der Bevölkerung lebt in Armut; Inflation und steigende Preise verstärken die Not. 14,6 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, sieben Millionen Binnenvertriebene harren in zugigen Zelten und provisorischen Unterkünften aus. Auch die Angst ist nach wie vor allgegenwärtig – je nach Region fürchten die Menschen die Geheimdienste von Machthaber Bashar al-Assad, extremistische Milizen, einen weiteren türkischen Einmarsch oder die Rückkehr des sogenannten Islamischen Staates (IS).
Während die Türkei eine Million syrische Geflüchtete nach Nordsyrien zurückschicken will und Europa darüber diskutiert, wann es sicher genug für Abschiebungen nach Syrien sein könnte, denken die Menschen vor Ort darüber nach, wie sie dem Elend entkommen können. Die Frage ist deshalb nicht, wann Exil-Syrer:innen endlich zurückkehren werden, sondern wie sich die Bedingungen im Land so verbessern lassen, dass diejenigen, die noch dort sind, bleiben.
Erste Voraussetzung dafür ist die ehrliche Einsicht, dass der Syrien-Konflikt in den nächsten Jahren nicht gelöst werden wird. Assad herrscht weiter wie bisher, seine Gegner sind geflohen, geschlagen oder diskreditiert. Wegen seiner Abhängigkeit von anderen ist Assads Macht nicht stabil, aber überlebensfähig. Die Profiteure seines Systems leben von der westlich finanzierten UN-Hilfe, vom Handel mit synthetischen Drogen und von den Devisen-Einnahmen, die die syrischen Botschaften in Europa mit Passgebühren eintreiben.
Für Assad läuft es gut
Auch in der Region läuft es für Assad gut, die arabischen Nachbarn nähern sich wieder an. Staatsbesuche, Ministertreffen und die Wiedereröffnung von Botschaften in Damaskus treiben die Rehabilitierung des syrischen Regimes voran – aller anhaltenden Völkerrechtsverbrechen zum Trotz. Dahinter steckt ein einfaches Kalkül: Da Assad nicht so bald abtreten wird, holt man ihn lieber in den arabischen Geltungsbereich zurück, anstatt Syrien dem Einfluss des Iran, Russlands und der Türkei zu überlassen.
Wie also umgehen mit einem festgefahrenen Konflikt in der Nachbarschaft, der Europa unmittelbar betrifft, dessen Profiteure aber wegen ihrer Verbrechen keine Partner sein können? Wie lässt sich die Krise in Syrien so managen, dass man die Not der Menschen lindert, ohne das Assad-Regime zu stärken?
Der Schlüssel liegt in der geographischen Teilung des Landes. Seit Frühjahr 2020 sind die Konfliktlinien weitgehend eingefroren, Syrien ist in vier Einflusszonen zerfallen. Die bevölkerungsreichen Gebiete im Zentrum, entlang der Küste und im Süden kontrolliert Assad. Der Nordosten – fast ein Drittel des Staatsgebietes – wird von der kurdisch dominierten Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES) regiert. In der letzten von Assad-Gegnern gehaltenen Region in der nordwestlichen Provinz Idlib herrscht Hayat Tahrir al-Sham (HTS), ein Zusammenschluss extremistischer Milizen. Und die türkisch besetzten Regionen im Norden sichert sich Ankara mit syrischen Söldnern und Oppositionellen als Statthaltern.
In jedem dieser Gebiete haben sich unterschiedliche Realitäten entwickelt, die jeweils eigene Antworten der internationalen Gemeinschaft erfordern. Nicht um die Teilung zu zementieren, sondern um die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort erträglicher zu machen und den innersyrischen Austausch zwischen den vier Regionen besser zu managen.
Schon jetzt wird über Kriegsfronten hinweg gehandelt und geschmuggelt – Öl und landwirtschaftliche Produkte, Waren aus der Türkei, Waffen, Drogen und Menschen. Von dieser Kriegswirtschaft profitieren jedoch bewaffnete Gruppen, lokale Geheimdienstvertreter und Assad-nahe Geschäftsleute, die sich bereichern, statt die Bewohner ihrer Regionen zu versorgen. Ein landesweites Netz aus Kontrollposten sichert ihnen den willkürlichen Zugriff auf alles, was Geld bringt, während die lokale Bevölkerung unter ständig steigenden Preisen und neuen Bestimmungen leidet.
Pragmatische Vereinbarungen gesucht
Würden ausländische Geber Syrien vorübergehend als geteiltes Land begreifen und einen effektiven Umgang mit den verschiedenen regionalen Machthabern finden, könnte zwischen diesen ein Aushandlungsprozess in Gang kommen – nicht über politische Themen wie Demokratie, Mitbestimmung und die Aufarbeitung von Verbrechen, sondern über die praktischen Probleme des Alltags, die ohne geregelte Zusammenarbeit das Leben der Syrerinnen und Syrer erschweren: die Lieferung von Öl und Kochgas, den Transport von Gemüse und Obst, die Versorgung mit Strom und Wasser, die Anerkennung von Schulabschlüssen und die medizinische Versorgung.
Für solche pragmatischen Vereinbarungen werben der Konfliktberater Malik al-Abdeh und der Politikwissenschaftler Lars Hauch von der Londoner Beratungsfirma Conflict Mediation Solutions. Um den Handel und die Bewegungsfreiheit der Menschen innerhalb Syriens zu verbessern, müssten die verschiedenen Machthaber – Regime, HTS, türkisch unterstützte Opposition und AANES – sich kurzfristig als gleichwertig betrachten und technische Details verhandeln.
Dabei dürfe nur Gleiches mit Gleichem getauscht werden, etwa indem beide Seiten Straßensperren oder Zölle abbauen, den Warentransport und Reiseverkehr erleichtern oder Schulabschlüsse gegenseitig anerkennen. Keinesfalls sollte man zulassen, dass einmalige Gesten des guten Willens wie die Freilassung von Gefangenen zu strukturellen Veränderungen wie der Aufhebung von Sanktionen führen, schreiben al-Abdeh und Hauch und kritisieren damit den bisherigen step-for-step-Ansatz der UN gegenüber Damaskus.
Die beiden Autoren sind überzeugt, dass besser regulierte Kontakte zwischen den verschiedenen syrischen Einflusszonen einem Staatszerfall entgegenwirken und langfristig die Grundlagen für eine politische Einigung schaffen könnten. Deshalb seien die "crossline deals“ auch im Interesse der internationalen Gemeinschaft. Sie sollten von den UN unterstützt, von den Interventionsmächten mit Garantien abgesichert und von den syrischen Konfliktparteien in direkten Gesprächen ausgehandelt werden, fordern al-Abdeh und Hauch.
Europäer und Amerikaner müssen die jeweiligen Machthaber dafür nicht legitimieren. Sie sollten ihnen gegenüber nur klarmachen, wer am längeren Hebel sitzt – nämlich sie selbst, da sie 80 Prozent der humanitären Hilfe finanzieren und deshalb an jedem Ort in Syrien sicherstellen wollen, dass dieses Geld den Bedürftigsten zugutekommt. Statt den Goldesel zu spielen und Jahr für Jahr Milliarden in den UN-Topf zu werfen, aus dem sich Assad bedient, wie er will, sollte Europa seine Wirtschaftskraft endlich in Verhandlungskapital umwandeln.
Assad nutzt die internationale Hilfe
Wie ineffektiv und korrupt das internationale Hilfesystem für Syrien ist, beschreibt der Bericht "Rescuing Aid in Syria“, den die amerikanische Wissenschaftlerin Natasha Hall für das Center for Strategic and International Studies verfasst hat. Die Details sind schockierend, wenn auch nicht neu, denn das Assad-Regime nutzt die humanitäre Hilfe seit Jahren als Instrument des eigenen Machterhalts.
Die Manipulation beginnt mit dem künstlich niedrigen Wechselkurs, der für die UN beim Kauf von syrischen Pfund gilt. Dadurch landen 51 Cent pro Dollar – mehr als die Hälfte der Hilfsgelder – als Devisenreserven bei der Zentralbank. Der Rest wird von den UN-Unterorganisationen an syrische Partnerorganisationen weitergegeben, die zum Machtzirkel Assads gehören, dem Sicherheitsapparat oder dem Militär nahestehen oder mit dem Regime verbunden sind. Dass viele dieser Partner auf der Sanktionsliste der EU und USA stehen, kümmert die UN nicht – Hauptsache Genehmigungen werden zügig erteilt und die Arbeit läuft.
Geber wie Deutschland und die EU müssten ihre Unterstützung für die Regime-Gebiete deshalb an konkrete Bedingungen oder Empfänger knüpfen. Sollten europäische Steuergelder weiterhin bei denjenigen landen, die aus gutem Grund sanktioniert sind, müssten Hilfen zurückgehalten werden.
Dadurch würde der Druck auf die UN wachsen, sich nicht länger den Vorgaben des Regimes zu unterwerfen, sondern die Milliarden nach humanitären Kriterien auszugegeben. Die Unterorganisationen müssten geeint auftreten, Regime-freundliches Personal austauschen, unabhängige Bedarfspläne aufstellen und diese umsetzen. Verweigert das Regime seine Zustimmung, wird das Geld zunächst nicht ausgezahlt. Zuckerbrot und Peitsche – anders wird es nicht gehen.
Eine solche Neuausrichtung der UN-Hilfe würde nicht nur die Menschen in den Regimegebieten besser versorgen, sondern müsste auch sicherstellen, dass der Nordosten die notwendige Unterstützung bekommt. Seitdem der syrisch-irakische Grenzübergang Al-Yaroubia Anfang 2020 durch Russlands Veto im Weltsicherheitsrat geschlossen wurde, muss die gesamte UN-Hilfe für Nordostsyrien über Damaskus laufen. Mit den Behörden der Selbstverwaltung dürfen die Vereinten Nationen nicht direkt kooperieren. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) versuchen, entstandene Lücken zu schließen, doch vor allem die Gesundheitsversorgung leidet.
Während der Corona-Pandemie lieferte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weder notwendiges Testmaterial noch entsprechende Impfdosen, weil Damaskus keine Erlaubnis erteilte. Sollte die WHO aus Rücksicht auf das Regime weiterhin die drei Millionen Menschen in Nordostsyrien im Stich lassen, müssten sich ausländische Geber lokale Partner suchen.
Das kurdische Autonomieprojekt birgt Chancen
Die kurdische AANES-Gebiete bieten dafür gute Voraussetzungen, da mehr als 200 NGOs dort relativ frei agieren können. Selbst vorsichtige Länder wie Deutschland, die den Unmut der Türkei fürchten, weil diese das Autonomieprojekt aufgrund der Verbindungen zur PKK-nahen Partei der Demokratischen Union (PYD) als "terroristisch“ bezeichnet und bekämpft, können folglich helfen, denn sie müssen dafür nicht direkt mit der AANES kooperieren. Das Gesundheitssystem ließe sich etwa über den Kurdischen Roten Halbmond unterstützen, eine unabhängige Organisation, die seit Jahren Geld aus Europa und den USA erhält.
Die Entwicklung der Region ist wichtig, um dem Wiedererstarken des Islamischen Staates (IS) entgegenzuwirken, der erfolgreich unter den Angehörigen ehemaliger IS-Kämpfer und der verarmten Bevölkerung in den Provinzen Raqqa und Deir a-Zor rekrutiert. Eine jahrelange Dürre und die Tatsache, dass der Euphrat so wenig Wasser führt wie noch nie, weil die Türkei am Oberlauf mehr Wasser entnimmt als sie einem Abkommen gemäß darf, machen viele landwirtschaftliche Flächen unbenutzbar.
Umso dringender sind Investitionen in die Infrastruktur und Landwirtschaft – das haben auch die USA erkannt, die deswegen im April ihre Syrien-Sanktionen für den Nordosten aufgehoben haben in der Hoffnung, private Firmen und andere Regierungen zu mehr Engagement zu ermutigen. Europa sollte diese Chance nutzen, um wenigstens in einem Drittel des syrischen Staatsgebietes eine nachhaltigere Entwicklung in Gang zu setzen, die die Bewohner langfristig unabhängig von humanitärer Hilfe macht.
Bleibt das Ringen um die Versorgung der vier Millionen Menschen in der Provinz Idlib. Die Mehrheit von ihnen sind Binnenvertriebene, die im Laufe des Krieges mehrfach vor dem Regime fliehen mussten und seit Jahren in Zeltstädten oder Bauruinen leben.
Noch dürfen die Vereinten Nationen das Gebiet im Nordwesten über den Grenzübergang Bab al-Hawa versorgen. Doch dem einzig verbliebenen Übergang für grenzüberschreitende UN-Hilfe droht das Aus, weil der Weltsicherheitsrat alle sechs Monate über eine Verlängerung abstimmen muss und Russland jedes Mal mit seinem Veto droht, um die gesamte humanitäre Hilfe über Damaskus zu lenken.
Nichtregierungsorganisationen in Idlib stärken
Kernproblem in Idlib ist der lokale Machthaber HTS, dem auch der frühere Al Qaida-Ableger Nusra-Front angehört und der international als Terrorgruppe gilt. Seit 2017 betreibt HTS mit der "Syrischen Erlösungsregierung“ (Syrian Salvation Government) eigene Verwaltungsstrukturen, internationale Geber haben sich weitgehend zurückgezogen und fördern nur noch NGOs, die beweisen können, dass kein Geld bei HTS landet.
Dadurch sind lokale Organisationen unter extremen Druck geraten – sie sollen die wachsende Not lindern, brauchen für ihre Arbeit die Zustimmung des Salvation Governments, bekommen aus dem Ausland aber nur Geld, wenn sie von HTS unabhängig sind. Einzelne NGOs könnten sich unter diesen Umständen nicht behaupten, schreibt Natasha Hall in ihrer Studie, sie fordert deshalb einen kollektiven Ansatz der internationalen Gemeinschaft.
Geberländer und UN sollten sich zusammenschließen und mit HTS klare Rahmenbedingungen für die Unterstützung im Nordwesten aushandeln. Dadurch würde der Raum für humanitäre Hilfe besser geschützt und der Einfluss des Salvation Governments begrenzt, meint Hall. Es gehe nicht darum, HTS zu legitimieren, sondern die wertvolle Arbeit von zivilgesellschaftlichen Partnern aufrechtzuerhalten – im Interesse der Menschen in Idlib.
Diese Wende im Umgang mit Syrien erfordert Kenntnis der lokalen Bedingungen und Entschlossenheit. Für die Verteilung von Hilfe in den Assad-Gebieten müssen die Regeln der UN und nicht die des Regimes gelten. Der Nordosten sollte nicht nur humanitär versorgt, sondern auch mit Infrastrukturmaßnahmen entwickelt und stabilisiert werden. Im Nordwesten braucht es ein koordiniertes Vorgehen aller Geber, um gegenüber HTS Bedingungen durchzusetzen, die eine langfristige Versorgung der Menschen ermöglichen, ohne die Terrorgruppe zu stärken.
Gelingt dies nicht, werden die Milliardenzahlungen des Westens weiterhin Assads Macht festigen und die bedürftigsten Menschen verelenden lassen. Junge Menschen werden sich auf den Weg nach Europa machen oder extremistischen Gruppen anschließen. Wer also weitere Flüchtende und einen IS 2.0 verhindern will, muss endlich dafür sorgen, dass die Hilfe in Syrien dort ankommt, wo sie am dringendsten gebraucht wird.
Kristin Helberg
© Qantara.de 2022
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