Das Ende der ''Antithese des 11. September''

Die meisten der Millionen, die in den Straßen Arabiens marschieren, sind Muslime. Und es scheint nicht so, als handelten sie gegen ihren Glauben, wenn sie Freiheit und Demokratie einfordern. Auch sind es keine islamistischen Regierungen, gegen die sie sich erheben, sondern fast alle der arabischen Autokratien (mit Ausnahme Saudi-Arabiens) sind säkulare Staaten.
Nicht der Islam war es, der diese Regimes aufrechterhielt und der es ihnen ermöglichte, die Freiheit zu unterdrücken und die Menschenrechte zu verletzen. Vielmehr half der Westen selbst mit durch seine schon Jahrzehnte währende Unterstützung der autoritären Machthaber: Mubarak erhielt Milliarden US-Dollar aus den USA, Ben Ali unterhielt gute Beziehungen mit Frankreich, in Bahrain liegt die Fünfte Flotte der US Navy und Saudi-Arabien kaufte kürzlich Waffen im Wert von 70 Milliarden US-Dollar (mehr als das Zehnfache des gesamten Militärbudgets des Iran) von seinen amerikanischen Alliierten. Diese Liste ließe sich fortsetzen.
So ziemlich der einzige arabische Diktator ohne westliche Unterstützung ist Syriens Präsident Baschar al Assad. Selbst der Außenseiter Gaddafi pflegte vertrauliche Beziehungen zu Staatsmännern (und Intellektuellen) aus Großbritannien, Italien und Frankreich.
Sollte der Westen diese Despoten je zu Reformen gedrängt haben, waren seine Forderungen wenig erfolgreich. Niemals aber brachte dies den Westen dazu, seine Unterstützung zurückzuziehen. So scheint die seit dem 11. September postulierte Antithese doppelt widerlegt worden zu sein: Während Muslime für "westliche Werte" kämpfen, versagen westliche Staaten, wenn es darum geht, diese ihrerseits durchzusetzen. Freiheit und Demokratie werden von islamischen Bevölkerungen eingefordert, während eben diese Werte ihnen von Alliierten des Westens vorenthalten wurden.
All dies geschieht vor den Augen der Öffentlichkeit: Ein Millionenpublikum verfolgte die Live-Reportagen von BBC World oder Al Jazeera vom Tahrir-Platz in Kairo.
Die Folge ist, dass sich die öffentliche Wahrnehmung wandelt: Im vergangenen Jahrzehnt bestand das Stereotyp des politischen Muslim aus einem bärtigen Mann mit einem Sprengstoffgürtel. Nun sehen wir viel vertrautere Typen – Jugendliche, Geschäftsleute, Hausfrauen –, die Forderungen erheben, mit denen auch wir uns identifizieren können.
Zur gleichen Zeit veröffentlicht die Presse Bilder westlicher Staatsmänner in vertrauter Pose mit ihren Diktatorenfreunden: Sarkozy umarmt Ben Ali oder Barroso trifft Gaddafi. Tony Blair verteidigte gar seinen "alten Partner" Mubarak als "sehr mutig und eine Kraft des Guten".[3]
In diesem Sinne können auch die zögerlichen Reaktionen Barack Obamas in den ersten Wochen der Proteste interpretiert werden: Mehr als Bewunderung für den Mut der Protestierenden äußerte er Lob für die Zurückhaltung des in den USA ausgebildeten ägyptischen Militärs – also dafür, dass sie nicht sofort auf die Aufständischen schossen.
Das vielleicht deutlichste Zeichen für das Aufbrechen der "Antithese des 11. September" ist das Schweigen derer, die zuvor den Gegensatz zwischen Islam und Westen am meisten propagiert hatten.
Al Qaida scheint wie vom Donner gerührt angesichts der Rebellion in den arabischen Ländern. Und die westlichen Islamkritiker tun sich mit einer Antwort ebenso schwer. Ihre Argumentation läuft hauptsächlich darauf hinaus, dass dies keine demokratischen Revolutionen seien, sondern letzten Endes die Bildung fundamentalistischer Staaten nach sich ziehen würden.
Es mag sein, dass sie damit einen wunden Punkt ansprechen: Noch ist völlig offen, wohin die politischen Veränderungen führen werden, und es ist alles andere als sicher, dass wir schon bald überall im Nahen Osten voll entwickelte liberale Demokratien haben werden. Doch wenn sich die Dinge schlecht entwickeln, werden diese Kritiker keinen Moment zögern, den Islam für das Scheitern verantwortlich zu machen.
Nicht erwähnen werden sie dagegen die ökonomische Instabilität und den Analphabetismus der Wahlbürgerinnen und Wahlbürger oder die konter-revolutionären Kräfte der Regimeeliten aus vorrevolutionärer Zeit, die noch immer über beträchtlichen Einfluss verfügen. In den Augen der Islamkritiker gibt es nur eine Gefahr für die Demokratisierung: den muslimischen Glauben. Damit meinen sie möglicherweise, sich die eine Hälfte der beschworenen Antithese bewahren zu können: die Idee, dass sich der Islam nicht mit demokratischen und liberalen Werten verträgt.
Die andere Hälfte jedoch – dass der Westen der natürliche Bewahrer dieser Werte ist – wird von der Politik unserer Regierungen gegenüber dieser Region stetig widerlegt. In ihrem Selbstverständnis als Verteidiger von Freiheit und Demokratie fiel den Islamkritikern bemerkenswert wenig ein zur westlichen Unterstützung der arabischen Diktaturen. Selbst zu dem Fall, in dem diese Unterstützung einer islamisch-fundamentalistischen arabischen Diktatur zukommt, Saudi-Arabien, war von den Islamkritikern nichts zu hören. Die einzig plausible Erklärung hierfür ist, dass diese Beziehungen ignoriert werden, wenn sie sich nicht in den sich ergänzenden Gegensatz "Westen versus Islam" einfügen lassen.
Lektionen für die Zukunft
Ein genauerer Blick auf die Beziehungen zwischen westlichen Staaten und arabischen Diktaturen lohnt sich. Dabei wäre es zu einfach, zu sagen, dass die Welt eben ein schlimmer Ort ist, und dass westliche Regierungen nun mal gezwungen seien, manchmal Geschäfte mit Regimes zu machen, die ihnen nicht gefallen. Diese Ansicht würde die bisherige Intensität und die Auswirkungen dieser Beziehungen unterschätzen.
Ägypten ist hierfür ein gutes Beispiel: Das Mubarak-Regime empfing nicht nur jährliche Zahlungen zwischen einer und zwei Milliarden US-Dollar (hinzu kamen Waffen im etwa gleichen Wert). Die militärischen und politischen Eliten des Landes wurden jahrzehntelang in den USA ausgebildet. Dafür wurde den USA ein privilegierter Zugang zum Suez-Kanal gewährt. Und seine Folterkammern bot Mubarak ihnen zur freien Verfügung freundlicherweise gleich mit an.
Die Kooperation der USA mit einigen repressiven arabischen Regimes bei Folterungen von des Terrorismus verdächtigten Menschen – sowohl vor als auch nach dem 11. September 2001 – gelangte allzu lange nicht ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit. Menschen, die in Afghanistan oder auf den Straßen europäischer Städte gefasst wurden, wurden in ägyptische, jordanische, marokkanische und sogar syrische Gefängnisse gebracht, wo sie gefoltert wurden.[4]
Als Verbindungsmann der Amerikaner, der diese Praktiken in Ägypten verantwortete, fungierte der Chef des Geheimdienstes Omar Suleiman.[5] Eben dieser Mann war es auch, der inmitten der Proteste auf dem Tahrir-Platz als Mubaraks Vize-Präsident eingesetzt wurde, um einen "geordneten Übergang" zur Demokratie zu garantieren. Es kann nicht überraschen, dass dies nicht der Mann war, auf den die Aufständischen gewartet hatten.
Diese Aspekte müssen berücksichtigt werden, wenn wir uns nun der Zukunft zuwenden. Schließlich können wir nicht so tun, als hätte all dies nicht stattgefunden. Westliche Staatsmänner und Staatsfrauen würden ihre früheren Verbindungen zu den ins Schwanken geratenen Diktaturen heute gern vergessen machen.
Obama nahm in seiner erst kürzlich gehaltenen Rede zum Nahen Osten jedenfalls keinen Bezug auf die "Schattenseiten" des US-Engagements in der Region, was den Anschein erweckte, als gebe es sie nicht. Nur ein kurzer Hinweis ließ aufhorchen: Als er auf den "Verdacht" der einfachen Leute in Arabien einging, "dass die Vereinigten Staaten ihren Interessen auf Kosten von anderen Gesellschaften" nachgingen. Der Rest seiner Rede war voll von Hoffnungen und Plänen Amerikas in seiner "natürlichen" Rolle als Sachwalter von Freiheit und Demokratie. Auf einmal befanden sich die "ureigenen Interessen" der USA wieder in völliger Übereinstimmung mit diesen erhabenen Zielen.[6]
Es ist eine Sache, wenn Politiker ein selektives Gedächtnis haben, denn schließlich sind ihre Absichten letzten Endes vor allem rhetorischer Natur. Eine ganz andere Sache aber ist es, wenn unabhängige Experten über die bisherige Rolle des Westens im Nahen Osten schweigen. In einem kürzlich in der Zeitschrift "Foreign Policy" erschienenen Artikel wird die These aufgestellt, dass die arabische Demokratisierung lediglich von der Veränderung ihrer eigenen Mentalität abhinge: "Die Araber lassen sich nun begeistert auf eine Kultur des Aktivismus und der Selbstbestimmung ein, im Gegensatz zu der bislang dominanten Passivität und Opferhaltung."[7]
Anschließend wird die westliche Rolle in der Region ausschließlich aus der Perspektive eines entwicklungspolitischen Geberlandes diskutiert. Ähnliche Analysen lassen sich von Carl Gershman, dem Präsidenten des National Endowment for Democracy, finden. Er stellt ein komplexes Paket von Ratschlägen vor, was wir tun können, "um sicherzustellen, dass die Autokratien diese demokratische Kettenreaktion nicht ersticken".[8]
Die Option, die in den vielen Kommentaren und Analysen allerdings nicht erwähnt wurde, ist die, dass wir aufhören müssen, Autokratien zu untersützen, welche die Demokratisierung zu ersticken versuchen. Den westlichen Regierungen muss sehr viel genauer auf die Finger geschaut werden, so sehr, dass sie sich gezwungen sehen, ihre Außenpolitik nach ethischeren Maßstäben auszurichten.
Geert J. Somsen
© Aus Politik und Zeitgeschichte 61 (2011)
Dr. Geert J. Somsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Geschichte an der Fakultät für Kultur- und Soziale Wissenschaften der Universität von Maastricht.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
[1] So haben niederländische Historiker einen "Kanon der Niederlande" erarbeitet und geholfen, den Plan für ein erstes Nationalmuseum zu entwickeln.
[2] Nicholas D. Kristof, Unfit for Democracy?, in: New York Times vom 12.2.2011.
[3] Zit. nach: Chris McGreal, Tony Blair: Mubarak is 'immensely courageous and a Force for Good', in: The Guardian vom 2.2.2011.
[4] Die Folterpraktiken wurden ausführlich dargestellt von Amnesty International, Human Rights Watch, dem Europarat und einer Reihe von Einzelstaaten, deren Bürger, Städte oder Flughäfen von den Aktionen betroffen waren. Vgl. unter anderem die Zeugenaussage von Tom Malinowski, Washington Advocacy Director von Human Rights Watch, in: Extraordinary Rendition, Extraterritorial Detention, and Treatment of Detainees, Juli 2007, online: www.fas.org/irp/congress/2007_hr/rendition2.pdf (7.6.2011).
[5] Vgl. Jane Mayer, Who is Omar Suleiman?, in: The New Yorker vom 29.1.2011; Lisa Hajjar, Suleiman, the CIA's Man in Cairo, 7.2.2011, online: http://english.aljazeera.net/indepth/opinion/2011/02/201127114827382865.html (7.6.2011).
[6] Vgl. Remarks by the President on the Middle East and North Africa, 19.5.2011, online: www.whitehouse.gov/the-press-office/2011/05/19/remarks-president-middle-east-and-north-africa (7.6.2011).
[7] David Ignatius, What Happens When the Arab Spring Turns to Summer?, in: Foreign Policy vom 22.4.2011.
[8] Carl Gershman, The Fourth Wave, in: The New Republic vom 14.3.2011.