Entwurzelte Gotteskrieger


Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass ein kleiner Teil der iranischen Muslime extremistischen und gewalttätigen Gedanken anhängt. Es ist aber auch klar, dass diese Menschen dem herrschenden Regime angehören und mit seiner materiellen und geistigen Unterstützung Gewaltakte ausüben und nicht davor zurückschrecken würden, Verbrechen zu begehen. Sie sind zwar Schiiten, gleichen aber ihren sunnitischen fundamentalistischen Genossen in der arabischen Welt und stehen unter dem Einfluss der terroristischen Bewegung in den Nachbarstaaten. Sie werden daher mit Recht in Iran schiitische Taliban und schiitische al-Qaida genannt. Die Wurzeln des Terrorismus Über diese neue Erscheinung und die Möglichkeiten, sie abzuwehren, ist viel gesagt und geschrieben worden. Solange jedoch die sozialen und politischen Ursachen dieses Phänomens nicht beachtet und untersucht worden sind, wird auch nicht klar werden, wie die Abwehrmaßnahmen aussehen sollen, so dass jegliche Strategie erfolglos bleiben wird. Der zehnjährige Kampf mit militärischen Mitteln gegen die Taliban und al-Qaida und der allgemeine Kampf gegen den Terrorismus in Ost und West hat zu keinem Ergebnis geführt. Die NATO gibt praktisch zu, ihre Ziele in Afghanistan im Kampf gegen die Taliban nicht erreicht zu haben. Die Erhaltung des Status quo wird als Erfolg angesehen. Man sieht allmählich ein, dass man mit modernen Waffen und klassischen Armeen gegen die terroristische Ideologie nichts ausrichten kann. Mir scheint, dass der Fehler der westlichen Analyse der Situation im allgemeinen und der Politiker im besondern darin liegt, dass sie die Ursachen des Fundamentalismus und des Terrorismus subjektiv im Islam und in religiösen Lehren suchen. Sie picken zusammenhanglos Koranverse und Überlieferungen aus den Texten der Tradition und der Scharia heraus, um gegen die Terroristen zu argumentieren. Wenn sie Verse im Koran über den Dschihad finden, schlagen sie gleichsam vor, diese kurzerhand aus dem Gesamttext zu streichen. Diesem Denken zufolge wäre ein Koran ohne Dschihad-Verse in Millionenauflage die Lösung. Denn wenn die Muslime dies akzeptierten, hätte man das Übel an der Wurzel gepackt und dem Terrorismus der Selbstmordattentäter und Dschihadisten den Garaus gemacht. Soziale Faktoren Bei näherer Betrachtung jedoch wird klar, dass dieses zerstörerische Phänomen vor allem ein soziales Problem ist, das durch eine Serie von historischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren verursacht wird. Es wird weiterhin bestehen, solange die verursachenden Faktoren existieren. Natürlich spielen auf die Religion zurückgehende subjektive und kulturelle Faktoren beim Entstehen des islamistischen Terrorismus und Extremismus auch eine wichtige Rolle. Sie müssen ebenfalls erkannt und abgewehrt werden. Das geht aber nur dann, wenn wir einsehen, dass dies ein soziales und politisches Problem ist und auf objektive Faktoren zurückgeht. Man kann aber auch weiter mit alten Mitteln gegen den Terrorismus kämpfen und jegliche Verschiebung in den Prioritäten als Holzweg betrachten und schließlich die Niederlage erleben. Man muss aber wissen, dass die Fundamentalisten, insbesondere die Gruppen, die Gewalt anwenden und terroristische Selbstmordattentate verüben, in aller Welt außerhalb der Kontrolle der traditionellen religiösen Institutionen und Autoritäten wie Moscheen und anerkannten Rechtsgelehrten stehen. Sie erkennen ihre Fatwas nicht an und glauben, dass sich die religiösen Führer mit dem westlichen Feind verbündet haben oder bestenfalls in ihrer konservativen Haltung gegenüber der ausländischen Herrschaft und den Feinden des Islam schweigen, so dass sie schließlich als Verräter anzusehen sind. Sie behaupten sogar, dass sie ihrer Religion abgeschworen haben und als Ungläubige bestraft werden müssen. Die Gruppe, die den früheren ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat ermordete, gehörte auch zu ihnen. Es ist kein Zufall, dass vom Anfang bis heute - seit der Gründung der Muslim-Brüderschaft im Jahre 1928 in Alexandria durch Hasan al-Banna bis zur Gründung al-Qaidas durch Osama bin Laden - alle Anführer und Gründer der extremistischen und terroristischen Gruppen keine Geistlichen waren, viele von ihnen sogar Universitätsstudien im Westen abgeschlossen hatten. Beispielsweise war Shukri Mustafa, Führer der salafistischen Bewegung at-Takfir wa l-Hidschra, ein Ingenieur mit Universitätsstudium; Abbas Madani, Führer von al-Amal al-Islami in Algerien, ein Doktor der Philosophie aus Oxford. Die meisten jungen Menschen, die im Westen Terrorakte verüben - darunter die neunzehn Attentäter in New York - sind aus dem Westen oder zumindest westlich ausgebildet und haben keinerlei organisatorische und spirituelle Bindungen an die traditionell religiösen Institutionen. Wenn sich gelegentlich ein Geistlicher niedrigen Ranges hervortut und in einer Moschee Extremismus predigt, handelt es sich um eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Religion als Deckmantel Daher betone ich, dass die extremistischen Gruppen, die Gewalt predigen und verüben, nicht auf die Lehren der Religion und die Belehrungen der Religionsführer hören. Sie stehen vielmehr unter dem Einfluss ihrer sozialen Umwelt und familiären Erziehung. Die Religion ist ein Deckmantel für alle anderen Gedanken, die aus anderen Quellen mit besonderen politischen Absichten gespeist werden. Ich möchte nicht behaupten, dass diese Menschen keine Muslime sind, sicherlich sind viele von ihren sogar fanatische Religionsanhänger. Es geht aber darum, dass sie, insbesondere die jungen Menschen unter ihnen, keine tief gehenden Kenntnisse über ihre Religion haben, unter bestimmten sozialen Einflüssen stehen, so dass schließlich politische Gruppen ihre Unkenntnis und ihren Fanatismus für ihre rechtswidrigen politischen Zwecke missbrauchen. Das heißt aber nicht, dass wir darauf verzichten sollen, auch die religiösen Lehren und die traditionellen Dogmen gebührend zu untersuchen. Nach meiner Ansicht beeinflussen einige wichtige Faktoren diese Art von islamischem Fundamentalismus, der selbst ein Phänomen der Moderne ist, besonders nachhaltig: Westlicher Kolonialismus Obwohl zurzeit kein Kolonialismus und keine Kolonien in ihrer klassischen Form bestehen, sind die alten Wunden noch lange nicht verheilt. Die heutige Generation, insbesondere die zweite und dritte Generation der in den westlichen Ländern aufgewachsenen jungen Menschen, kann sich natürlich an solche Zeiten nicht erinnern. Doch das historische Bewusstsein ihrer Eltern in Indien, Ägypten, Syrien, Libanon, Tunesien, Marokko, Algerien, Irak usw. vermittelt dieses bittere Erbe an sie weiter. Seit der Gründung der East India Company durch die Briten im Jahre 1605 und die hegemonialen Bestrebungen des Landes in Indien und im Osten sowie seit der Landung Napoleons in Ägypten im Jahre 1798, die die kolonialistische Beherrschung Indiens und arabischer Länder zur Folge hatten, standen nahezu alle islamischen Länder direkt oder indirekt mehr als 200 Jahre unter der westlichen Herrschaft von Briten, Franzosen, Belgiern, Holländern und Italienern. Gegenwärtig beherrschen und besetzen die Vereinigten Staaten von Amerika einen Teil der islamischen Welt auf eine andere Weise. Dieses historische Ereignis ist nicht so trivial, dass man es aus dem kollektiven Gedächtnis der Betroffenen ausradieren könnte. Es ist kein Zufall, dass die meisten muslimischen Terroristen aus Pakistan und Afghanistan stammen. Die zivilisatorische Unterentwicklung

Es ist eine Tatsache, dass Unwissenheit, Armut und Rückständigkeit, mit anderen Worten: zivilisatorische Unterentwicklung, die Hauptursache für Extremismus, Gewaltbereitschaft und verbrecherische Verhaltensweisen in der ganzen Welt ist. Aus diesem Grunde gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen Verbrechen und der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Armut. Die Anhäufung von Verbrechen in den Randgebieten der Metropolen bestätigt diese Ansicht. Fast alle islamischen Länder, vor allem Pakistan und Afghanistan, leiden unter der Rückständigkeit auf allen Gebieten. Obwohl in diesen Ländern mehrheitlich säkulare und nicht-religiöse Regimes herrschen, und die politische Elite in diesen Ländern seit längerer Zeit - insbesondere seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Jahre 1924 - im Allgemeinen säkular, westlich modern orientiert sind, ist jedoch aus gewissen Gründen - darunter wegen der herrschenden Diktaturen in diesen Ländern - bislang keine erwähnenswerte soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung zustande gekommen. Die Bevölkerung dieser Länder wird sich immer mehr dessen bewusst, welcher Abstand zwischen dem Norden und dem Süden des Erdballs herrscht. Sie halten die Europäer und Amerikaner dafür verantwortlich und ihre eigenen Regierungen und politischen Führer für inkompetent und betrachten sie mit hasserfülltem Misstrauen.
Israel und die palästinensische Tragödie
Ich glaube, dass eigentlich niemand bezweifelt, dass die palästinensische Tragödie und die Gründung eines jüdischen Staates im Nahen Osten vor 60 Jahren ein wichtiger Faktor bei der Entstehung und Verbreitung fundamentalistischer und radikaler Gedanken in der islamischen Welt war. Ein Blick auf die jüngste Geschichte dieser Region seit der Besetzung Palästinas im Ersten Weltkrieg, auf die politischen und militärischen Auseinandersetzungen in diesem Gebiet im Laufe der drei Jahrzehnte mit den zionistischen und jüdischen Einwanderern und Invasoren bis zur Gründung des Staates Israel in Palästina im Jahre 1948 und auf die darauf folgenden Ereignisse zeigt eindeutig, wie weit der islamische und arabische Radikalismus der letzten Jahrzehnte von diesen Entwicklungen geprägt wurde.
Es besteht kein Zweifel daran, dass das Problem des Fundamentalismus und der radikalen anti-westlichen und anti-israelischen Gedanken in dieser Region unter den Arabern und den westlichen Muslimen nicht zu lösen sein wird, solange kein gerechter Frieden herrscht, in dem die Mindestrechte der Palästinenser und die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates garantiert sind.
Wenn die westlichen Staaten und die Vereinten Nationen nicht imstande sind, die psychischen und sozialen Folgen des Kolonialismus zu beseitigen, sollten sie zumindest versuchen, einen echten und dauerhaften Frieden in Palästina zu schaffen und Israel von der Fortsetzung der Siedlungspolitik abzuhalten. Andernfalls wird der Kampf gegen den Terrorismus zu keinem Ergebnis führen.
Der Weg in die Zukunft
Die Ereignisse des 11. September waren eine große Katastrophe, deren Folgen am Ort des Geschehens und in der ganzen Welt nicht zu übersehen sind. Es sieht ganz danach aus, dass die katastrophalen Folgen weiterhin unser Leben bestimmen werden. Es ist daher notwendig, die Ursachen des neuen Fundamentalismus unter den Muslimen und die Ursachen der terroristischen und verbrecherischen Handlungen, die das Leben der Menschen in Ost und West bedrohen, zu begreifen, sie umfassend und gründlich zu beschreiben, um diesem zerstörerischen Phänomen mit angemessenen Mitteln zu begegnen. Die Vereinfachung des Problems wird nicht zur Lösung beitragen, ganz abgesehen davon, dass wir es heutzutage nicht nur mit dem islamischen, sondern auch mit allen anderen religiösen und nicht-religiösen Fundamentalismen, unter anderem mit dem jüdischen und christlichen, zu tun haben. Das Mindeste wäre, dass sich die entwickelten westlichen Staaten einerseits um einen gerechten, für beide Seiten akzeptablen Frieden in Palästina bemühen, und sich andererseits glaubwürdig für Fortschritt und echte Entwicklung im Nahen Osten einsetzen, also für Freiheit, Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte. Wir wissen alle, dass die Welt so klein geworden ist, dass es Sicherheit und Frieden entweder für alle oder für keinen geben wird.
Hassan Youssefi Eshkevari
Hassan Youssefi Eshkevari ist schiitischer Geistlicher und war wegen seiner liberalen und demokratischen Ansichten im Gefängnis. Er hat Schriften des ägyptischen Reformdenkers Nasr Hamid Abu Zaid ins Persische übersetzt. Er gehört zu den so genannten religiösen Intellektuellen in Iran.
© Goethe-Institut/Fikrun wa Fann 2011
Übersetzung aus dem Persischen: Manutschehr Amirpur
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de