Die Freude, andere Menschen verachten zu dürfen




Herr Sarrazin ist aber Mitglied der SPD und will das bleiben, und zwar ausdrücklich auch deshalb, weil seine Position, wie er sagt, klassisch "sozialdemokratisch" sei. Da stellt sich natürlich die Frage, wie er auf diese groteske Idee kommen kann. Wollen wir hier ausnahmsweise eine einfühlende, hermeneutische Lektüre versuchen. Was könnte in Herrn Sarrazins Kopf vorgehen, dass er auf diesen Gedanken kommt?
Eine klassisch sozialdemokratische Position lautet "Wissen ist Macht". Deshalb wollte die traditionelle Sozialdemokratie die Menschen bilden. Diese Idee der Ermächtigung durch Bildung verbreitete sich und führte dazu, dass Bildung auch in unterprivilegierten Milieus während einer bestimmten Epoche hochgehalten wurde – sagen wir: in der Zeitspanne von 1900 bis 1980.
Die Eltern sagten ihren Nachkommen: Lern was, Kind, damit etwas wird aus Dir. Über Bildung, so lautete das Versprechen, könne man den gesellschaftlichen Aufstieg schaffen. Und tatsächlich hielt dieses Versprechen einige Jahrzehnte lang.
Heute hält es immer weniger und gerade in Zuwanderermilieus ist das Versprechen heute sehr schal. Kinder, die in die neue migrierte Unterschicht hineingeboren werden, wachsen mit einem anderen Bewusstsein auf, nämlich: Auch, wenn sie sich anstrengen, nützt das ohnehin nichts. Sie haben nur eine minimale Chance. Übrigens gilt das für Kinder aus der autochtonen Unterschicht ganz ähnlich.
Sarrazin scheint also der Ansicht zu sein, dass die Unterschicht heute verkommen ist, weil sie an das klassische sozialdemokratische Versprechen – "Aufstieg durch Bildung" – nicht mehr glaubt. Er hält es deshalb für eine "sozialdemokratische Position", diese Unterschichten dafür zu beschimpfen, dass sie nicht mehr daran glauben. Nun, das ist jedenfalls eine sehr originelle Interpretation der "sozialdemokratischen Idee".
Zonen radikaler Exklusion
Eines ist sicher wahr: Es ist ein gesellschaftliches Problem, dass dieser "sozialdemokratische Faden" gerissen ist, dass es heute Zonen radikaler Exklusion gibt, in denen das Versprechen von Aufstieg durch Bildung nicht mehr zieht und es stimmt gewiss auch, dass es hier einen fatalen Kreislauf von Exklusion und Selbst-Exklusion gibt.
Aber es sind eben primär die politischen Eliten, die nicht in der Lage waren, die integrierende Idee zu erneuern. Es ist jedenfalls keine kluge Strategie, die Opfer dieser Prozesse zu beschimpfen.
Herrn Sarrazins Thesen sind verwirrt, hochnäsig, verletzend, gespickt mit verächtlichen Formulierungen und Ausdruck bizarrer Respektlosigkeit der Eliten gegenüber den "Losern". Der Mann ist auf eine Weise eingebildet, die eigentlich schallendes Gelächter provozieren müsste.
Alleine der Vorwurf an die Unterprivilegierten, sie würden faul von Staatsknete leben und überhaupt keinen Antrieb haben, sich im Wirbelwind des freien Wirtschaftslebens zu behaupten, ist zum Schreien komisch aus dem Mund eines Mannes, der sein gesamtes Leben lang in der staatlichen und staatsnahen Wirtschaft verbrachte und seine gesamte berufliche Karriere – von Ministerium bis Bahn bis Finanzsenatorenamt bis zur Bundesbank – dem Segeln auf einem Parteiticket verdankt.
Skandalöse Rezeption
Skandalös sind insofern nicht so sehr seine Thesen. Viel skandalöser ist die Aufnahme, die sie erfahren. Wieso eigentlich muss so ein Machwerk, statt ignoriert zu werden, über den "Spiegel" verbreitet, in Talk-Shows popularisiert werden, wieso erfährt ein derart krauser Kopf die Ehre, auf zwei "Zeit"-Seiten interviewt zu werden?
Natürlich, weil die Blattmacher wissen, dass es einen gesellschaftlichen Echo-Raum für die kalte Menschenfeindlichkeit gibt, die Sarrazin zum Ausdruck bringt. Weil es Milieus gibt, in denen dieser Rassismus längst schon blüht. Weil die Wortführer dieser Milieus, die sich immerzu überall äußern, der schrägen Auffassung anhängen, sie würden von der "politischen Korrektness" verfolgt und die sich deshalb mit dem Attribut schmücken, sie würden "unterdrückte" Meinungen äußern, dass es Mut bräuchte, "Klartext" zu reden, und sie diesen Mut aufbrächten.
Tolle Hechte, die sich "kein Blatt vor den Mund nehmen". Als würde es in unserer Gesellschaft irgendeine Dummheit geben, die ungedruckt bliebe oder nicht via Trash-Shows ins letzte Wohnzimmer gesendet würde.
Nein, man muss nicht mutig sein, um andere Menschen zu beschimpfen. Mit der ostentativen Freude daran, andere Menschen verachten zu können, kommt man heute auf Bestsellerlisten. Dummheit ist, wenn schon nicht erblich, dann in jedem Fall einträglich.
Robert Misik
© Qantara.de 2010
Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de
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