Verhärtete Fronten



Mit beidem hat die AKP (die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) von Premierminister Recep Tayyip Erdogan ihre Probleme. Eine neue Verfassung soll die Rechte des Parlaments und der Regierung der Nomenklatura gegenüber stärken und die Rechte des Einzelnen dem Staate gegenüber besser schützen.
Anfang Januar wollte Erdogan die neue Verfassung auch dazu nutzen, seinen Stammwählern, die oft fromme Muslime sind, zwei religionspolitische Geschenke zu machen, die ohne eine Verfassungsänderung nur schwer realisierbar sind.
Ideologische Präsente
Der obligatorische Religionsunterricht sollte zu einer Religionskunde umgestaltet werden, damit zusätzlich ein fakultativer Islamunterricht installiert werden kann. Zum zweiten sollte das Verbot des Kopftuchs an den Universitäten, das seit zwanzig Jahren besteht, jetzt endlich aufgehoben werden. Das wären, nach mehr als fünf Jahren AKP-Regierung, die ersten ideologischen Präsente der Partei an jene Wähler, die ihr primär aus religiöser Überzeugung ihre Stimme geben.
Doch für die sozial-nationalen Parteien im Parlament, die CHP und DSP waren diese Vorhaben mehr als genug, um jede Diskussion über eine neue Verfassung bereits im Keim zu ersticken. Besonders die Pläne zur Aufhebung des Kopftuchverbots führten dazu, dass die kemalistische Fraktion lieber bei dem bleiben wollte, was sie hat – auch wenn sie bis vor kurzem selbst noch eine neue Verfassung gefordert hat.
Jetzt schmiedet Erdogan ein Bündnis mit der rechtsnationalen MHP, die ebenfalls seit Jahren gegen das Verbot trommelt. Keine neue Verfassung, sondern eine Verfassungsänderung soll das Verbot jetzt aushebeln und zwar bereits in den nächsten Tage oder Wochen. Politisch ist das kein Problem, den AKP und MHP verfügen über mehr als zwei Drittel aller Stimmen, und 70 Prozent der Bevölkerung befürworten die Reform.
Eng gestrickte Verfassung
Trotzdem kann das Projekt scheitern, denn die alte Verfassung ist juristisch eng gestrickt. Das Kopftuchverbot an den Universitäten beruht auf einem Spruch des Verfassungsgerichts, das sich direkt auf das Prinzip des Laizismus stützt. Und an diesem Prinzip zu drehen, ist nach genau dieser Verfassung verfassungswidrig und verboten, weshalb das oberste Gericht den Parlamentsbeschluss aushebeln kann, zumindest theoretisch.
Damit befindet die Türkei sich wieder in ihrem alten und wohlbekannten Dilemma. Der Schutz einer wie immer aufgefassten "westlichen Lebensform" – das heißt kein Kopftuch an den Universitäten – kehrt sich gegen demokratisch legitimierte konservative Politik, und alles bleibt beim alten.
Ob die Reform nun durchgeht oder nicht, ob das Tuch an den Universitäten frei wird oder verboten bleibt, in jedem Fall verhärten sich die Fronten im Parlament und zwischen der Regierung und dem Militär. Auf der Strecke bleiben damit die demokratischen Reformen, und eine neue Verfassung rückt wiederum in weite Ferne.
Günter Seufert
© Qantara.de 2008
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