Globalgeschichte aus islamischer Perspektive
Die Erörterung dieser Fragen macht das Buch für Leser aus West und Ost gleichermaßen zu einem Gewinn. Denn Ansary verfolgt mit seiner Weltgeschichte einen zutiefst aufklärerischen Ansatz. Er legt dar, wie die Naturwissenschaften, wie wir sie heute kennen, fast schon unter den Kalifen der Abbasiden entstanden wären – sieben Jahrhunderte vor ihrer Geburt in Westeuropa.
Wie muslimische Erfinder an der Schwelle zu vielen Entdeckungen standen – und trotzdem nicht auf den Gedanken kamen, den "Dampfantrieb in Maschinen einzusetzen, mit denen sich massenweise Konsumgüter herstellen ließen".
In einer Gesellschaft mit Millionen von Handwerkern, Waren im Überfluss und effizienten Netzwerken hätten die Muslime in der Industrialisierung keinen Nutzen gesehen, schreibt Ansary. Merkantilismus, Reformation, Individualismus und Entdeckerdrang spielten den Europäern in die Hände: Die Umstände passten einfach.
"Handel ist das Gegenteil von Krieg"
Und dann begegneten sich die beiden Welten wieder. Nach den Kreuzzügen, die Ansary als weitaus weniger bedrohlich für den Islam beschreibt als die anschließenden Mongolenstürme, kamen die Europäer als Händler. Ein Kampf der Kulturen sei das nie gewesen, betont der Autor: "Handel ist doch schließlich das Gegenteil von Krieg."
In den USA erlangte Ansary mit einer zunächst nur an Freunde verschickten Email Berühmtheit, in der er sich im September 2001 mit den Plänen der Bush-Regierung auseinandersetzte, Afghanistan in die Steinzeit zurückbomben zu wollen ("Das Problem: Afghanistan ist bereits in der Steinzeit.").
Am Hindukusch und im Irak wolle der Westen Freiheit und Demokratie verteidigen, schreibt Ansary in seinem Buch. Dabei ziele die Rhetorik der militanten Islamisten nicht auf die freiheitlich-demokratische Regierungsform, sondern auf den moralischen Verfall. Sie sagten: "Ihr seid dekadent!", und der Westen antworte: "Wir sind frei!"
Zwei Positionen, die schlicht aneinander vorbei gehen. Sie sind nach Ansicht Ansarys symptomatisch für vieles im Verhältnis zwischen der islamischen Welt und dem Westen. "Jede Seite erkennt die andere lediglich als Figur ihrer eigenen Erzählung", wie es Ansary formuliert. Mit seiner "Weltgeschichte aus islamischer Sicht" öffnet der Autor beiden Seiten die Augen für den jeweils anderen Blickwinkel – damit wenigstens klar ist, worüber gesprochen wird.
Klaus Heymach
© Qantara.de 2010
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Tamim Ansary: "Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht", Campus Verlag, 2010, 367 Seiten. Übersetzt von Jürgen Neubauer, 24,90 Euro
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