Spiegel des gesellschaftlichen Wandels


Aktuell ist "Der Sohn des Mannes, der vom Himmel fiel – Türken im Weltall" – der "Schenkelklopfer" der Saison – eine Fortsetzung von "Der Mann der vom Himmel fiel", einem Klassiker, welcher regelmäßig in die Top-Ten der schlechtesten Filme aller Zeiten gewählt wird.
Wirkliche Filmkunst findet also woanders statt, und doch ist gerade das Popcornkino ein guter Indikator dafür, mit welch atemberaubenden Tempo einstige Tabuthemen etabliert werden: Kurdenkrieg, der Zypern-Konflikt, die griechisch-türkischen Vertreibungen, die Zeit der Militärjuntas – immer mehr verdrängte Geschichtskapitel tauchen auf der Leinwand auf.
Solche heiklen Themen waren lange Jahre vor allem das Terrain von engagierten "Independent"-Produktionen – überwiegend gefördert durch internationale Fonds wie "Eurimage", orientierten diese sich eher an einem europäischen oder internationalen Verständnis von "Autorenfilmen" als an einheimischen Sehgewohnheiten.
Dass die Vergangenheitsbewältigung nun so publikumsnah geprobt wird, ist umso aufschlussreicher für den gesellschaftlichen Status Quo.
Filmförderung auf Türkisch
Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, belegt die Bedeutung jenes Mediums, das vor drei Jahrzehnten noch verantwortlich für den Niedergang des Kinos war: nach Einführung des Fernsehens in den 70er Jahren sackte die türkische Kinoproduktion auf ein Rekordtief ab, von dem sie sich langsam zu erholen scheint.
Da der Staat immer noch keine hinreichende Filmförderung gewährleistet, liefert ausgerechnet das Fernsehen das nötige Kapital, die nötige Infrastruktur und Technik, die Schauspieler und auch die Themen für potenzielle "Blockbuster".
Berühmtestes Beispiel hierfür ist eine schillernde Figur wie Sinan Cetin, bekannt geworden mit ambitionierten Milieufilmen wie dem – in Deutschland gedrehten – Sozialdrama "Berlin in Berlin" (1992), schwenkte er bald auf "Mainstream" um.
Inzwischen ist Cetin einer der bedeutendsten Akteure in der Medienbranche, omnipräsent mit selbst produzierten Fernsehserien, eigenen Talk-, Game- und Musikshows. Sein Werdegang ist fast prototypisch: auch Serdar Akar, der 39-jährige Regisseur des kontroversen Films "Tal der Wölfe" hatte sich nach dem sozialrealistisch eingefärbten "Gemide" ("On Board", 1999) auf Fernsehserien spezialisiert.
Und "G.O.R.A."-Regisseur Ömer Faruk Sorak, Jahrgang 1964, stammt direkt aus dem Pool der Werbefilmer. Talentierte Aufsteiger in der Medienbranche finden sich dabei schnell in einer "Turkish Connection" wider, einem mafiös eingefärbten Beziehungsnetzwerk. Andererseits ermöglicht es der 53jährige Cetin mit seiner Firma "Platofilm" jungen Talenten überhaupt erst, sich im Film zu erproben.
Grenzen des Erlaubten
Wo das Kapital regiert, bleibt ein idealistischer Kulturbegriff auf Nischen angewiesen. So sammelt die Fraktion der "Arthouse"- und "Independent"-Filmemacher ihre Erfolge eher auf internationalen Festivals als auf dem türkischen Markt – mit psychologischen Charakterstudien im Fall von Zeki Demirkubuz, Nuri Bilge Ceylan, Zeki Kaplanoğlu oder mit politischen Themen.
So hatten unlängst Derviş Zaim mit "Çamur" ("Mud", 2003) und Yeşim Ustaoğlu mit "Bulutları Beklerken" ("Waiting for the Clouds", 2004) das Zypernthema aufgegriffen, dem Zaim noch den Dokumentarfilm "Paralel Yolculuklar" anhängte ("Parallel Trips", 2004 – zusammen mit dem griechischen Regisseur Panicos Chrysanthou).
Beim Kunstfilm wie beim Popcornkino verläuft die Grenze des juristisch und gesellschaftlich Erlaubten im Zickzack: Während die Armenienfrage immer noch ein Tabu im Kino bleibt und auch eine historisch längst überfällige Filmbiographie Atatürks noch nicht in Sicht ist, sind die neuen Religiösen vor die Kameralinse geraten.
So thematisiert etwa Ömer Kızıltans "Takva" erstmalig die prekäre Rolle reicher religiöser Stiftungen, mitten im islamisch regierten Wirtschaftswunderland Türkei.
Filmveteran Erkan Can überzeugt schauspielerisch als einfacher Ordensbruder, der das Amt des Schatzmeisters nur unter Gewissensqualen ausüben kann: Hier hehre Glaubensideale, da die Verlockungen des Schmiergeldes, der Vetternwirtschaft und der Begünstigungen. So bewegt sich der Film von einer breiter angelegten Gesellschaftsstudie immer mehr hin zu einem "klaustrophobischen Porträt" einer gequälten Seele.
Dass der vom europäischen Filmpreisträger und Berlinale-Gewinner Fatih Akın ko-produzierte Film auf dem wichtigsten türkischen Festival in Antalya gleich neun Preise gewann, liegt nicht allein an seiner Qualität, sondern auch an dem brisanten Thema. Damit hätte "Takva" die Möglichkeit, eine in der Türkei bedeutsame Kluft zu schließen: die zwischen Kunst und Kommerz.
Amin Farzanefar
© Qantara.de 2007
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