Spiegel der nationalen Identität




Schächter: Die Türkei ist ein Land der Extreme, ein Land in der ständigen Krise, und die Geschichten jagen einander in einem täglichen Rhythmus. Ein kleines Beispiel ist jetzt die Ausbootung von Hakan Sükür, den die türkische Presse schon seit Jahren extrem kritisiert. Dieselben Leute fragen jetzt: "Terim, warum hast du Hakan nicht mitgenommen?" Das sind die typischen Reflexe der Boulevardzeitungen.
Also immer nach vorne drängen, in die Aktualität, und nicht nach hinten schauen?
Schächter: Es hat auch sehr mit der Geschichtsaufarbeitung der Türkei zu tun, es gibt einige Tabuthemen, etwa den so genannten Genozid gegen die Armenier während des Ersten Weltkrieges. Die Türken schauen immer nach vorne, und nicht nach hinten.
Es heißt die Türkei öffnet sich langsam Richtung Europa. Gibt es eigentlich auch im Fußball einen Wandel?
Schächter: 2000 schafft Galatasaray Istanbul den ersten UEFA-Cup-Sieg einer türkischen Mannschaft, 2002 wird die Türkei WM-Dritter in Asien – da hat man sich schon in Augenhöhe mit den ganz Großen des Fußballs – Deutschland, Brasilien – gesehen. Der tiefe Fall hat dann zu einer ganz großen Verunsicherung geführt. Es gibt ein viele erstklassige türkische Spieler in ganz Europa, das könnte eine unheimliche Befruchtung für die Nationalmannschaft und die Clubs sein. Aber in der Presse sind diese Spieler nicht ganz vorne auf der Agenda: "Das sind noch gar keine richtigen Türken", heißt es. Da muss man sich noch mehr öffnen.
Immerhin spielen viele internationale Stars in einem der drei großen Istanbuler Vereine; auf der anderen Seite gilt: wer sich naturalisieren lässt, muss seinen Namen ändern.
Schächter: Bekanntestes Beispiel ist Marco Aurelio aus Rio de Janeiro. Der wurde 2006 als erster "Nichttürke" wie ihn die Nationalisten bezeichnen, in die Nationalelf berufen; es gab einen großen Aufschrei, und Journalisten haben kolportiert, er hätte das Mitsingen der Nationalhymne verweigert – nur weil er sie damals nicht mitsingen konnte. Jetzt heißt er "Mehmet"; auch das ist eine Konzession an die Nationalisten.
Was ist Ihrer Ansicht nach das Besondere an dem deutsch-türkischen Verhältnis?
Schächter: Mit 2,4 Millionen Türkischstämmigen und Türken in Deutschland ist das Verhältnis natürlich ein besonderes. Man hat die Deutschen außerdem immer als Lehrmeister gesehen, das hat mit Jupp Derwall angefangen, der nach Galatasaray ging, und danach, als Sepp Piontek Ende der Achtziger Jahre die Nationalmannschaft übernommen hat. Man spricht davon mit Hochachtung, und die Journalisten forderten jetzt, für 2008, einen zweiten Piontek, der noch einmal die Strukturen verbessert und mit internationalem Einfluss die Szene befruchtet.
Insgesamt: Ihre persönliche Prognose für den türkischen Fußball?
Schächter: Der türkische Fußball hat ein riesiges Potenzial an Talenten, und er hat auch die Möglichkeiten, wirklich dauerhaft auf höchstem Level zu spielen. Der Weg ist frei für große Tourniere und Erfolge.
Interview: Amin Farzanefar
© Qantara.de 2008
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