Hoffnungsvolle Fußballdiplomatie
Das Qualifikationsspiel zur Fußballweltmeisterschaft, das im September letzten Jahres in Eriwan zwischen der Türkei und Armenien ausgetragen wurde und 2:0 für die Türkei endete, war für die beiden entfremdeten Nachbarstaaten nicht nur ein Sportereignis, sondern auch ein mutiger Schritt hinsichtlich einer beiderseitigen Annäherung.
Der türkische Präsident Abdullah Gül nahm eine Einladung seines armenischen Gegenüber Sersch Sarkissjan an, sich das Spiel gemeinsam anzuschauen, obwohl nach wie vor zahlreiche Probleme zwischen beiden Staaten bestehen und trotz der heftigen Reaktionen der nationalistischen Opposition in der Türkei.
Tatsächlich waren im Vorfeld bereits seit einem halben Jahr Gespräche hinter verschlossenen Türen darüber gehalten worden, wie diplomatische Beziehungen aufgenommen werden könnten und wie sich die Grenze zwischen den Staaten durchlässiger gestalten ließe.
Diplomatische Eiszeit
Die Türkei war zwar eines der ersten Länder, das 1991 die Unabhängigkeit Armeniens anerkannte, doch sind seitdem keine formellen diplomatischen Beziehungen aufgenommen worden.
1993 schloss die Türkei sogar die Grenze zum Nachbarland, nachdem Eriwan die Armenier in Bergkarabach im Kampf gegen die aserbaidschanischen Ansprüche über die Region unterstützt hatte.
Die jahrelange Unterbrechung des Dialogs ließ zudem einen weiteren Faktor offen: So ging man davon aus, dass Armenien sich noch immer weigert, die Verträge von Alexandropol und Kars anzuerkennen, in denen 1920 und 1921 die türkisch-armenische Grenze festgelegt wurde.
Erschwert wird der Streit zusätzlich dadurch, dass die Armenier die türkischen Massaker zur Zeit der Osmanen im Ersten Weltkrieg als Völkermord bezeichnen. Dies wird von der Türkei jedoch zurückgewiesen, was bereits zu vielen diplomatischen Verstimmungen mit den EU-Staaten geführt hat, aber auch mit den USA, Kanada und sogar Israel.
Doch nun kommt neuer Wind in die festgefahrenen Beziehungen: Die Führung in Ankara hat dieses Jahr bekannt gegeben, mit der Regierung in Eriwan eine Einigung über eine "Roadmap" zur Normalisierung der Beziehungen erzielt zu haben – und dies nur zwei Tage vor dem 94. Jahrestag des 24. April, also genau an dem Tag, an dem in vielen Ländern der Opfer der Massaker an den Armeniern gedacht wird. Dafür gab es auch Lob von den Vereinigten Staaten.
Allerdings führt die neue Politik der Türkei zu Sorgen auf Seiten Aserbeidschans, das gemeinsame kulturelle und sprachliche Wurzeln mit der Türkei besitzt und das Land mit Gas zum Vorzugspreis versorgt.
Risiko von Fouls
Bei einem Besuch in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku versprach der türkische Premierminister Erdoğan am 14. Mai vor dem Parlament des Landes, dass die türkisch-armenischen Grenzen nicht eher geöffnet würden, bis Armenien seine Truppen aus Bergkarabach abzieht.
Dieses Versprechen wiederum lässt Zweifel darüber aufkommen, wie nah die Türkei und Armenien auf ihrem Weg zur Versöhnung bisher tatsächlich gekommen sind und auch darüber, wie der Weg in absehbarer Zeit weiter beschritten wird.
Doch wie auch im Fußball Überraschungen zum Spiel dazu gehören, gaben am 31. August, einen Tag vor dem Weltfriedenstag, die Türkei, Armenien und ihre schweizerischen Vermittler in Bern bekannt, dass sich die beiden Staaten auf die Aufnahme politischer Konsultationen auf Grundlage zweier Protokolle haben einigen können: dem "Protokoll zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen" und dem "Protokoll zur Entwicklung bilateraler Beziehungen".
Doch auch hier gilt, wie im Fußball, dass in einer solch kühnen Annäherung viele Risiken stecken: Abseits und Foulspiele sind prinzipiell nicht ausgeschlossen.
Das gemeinsame Statement unterstrich, dass "die beiden Protokolle eine Basis für die Normalisierung der bilateralen Beziehungen in einem vernünftigen Zeitrahmen bieten. Die politischen Konsultationen werden innerhalb von sechs Wochen beendet sein und die Protokolle anschließend unterzeichnet und beiden Parlamenten zur Ratifizierung vorgelegt. Beide Seiten werden zudem alles tun, um die Ratifizierung im Rahmen ihrer konstitutionellen und juristischen Möglichkeiten voranzutreiben."
Dissens über Protokolle
Das erste Protokoll betont zudem die armenische und türkische Verpflichtung, "regionale wie internationale Streitigkeiten und Konflikte friedlich und auf Grundlage der Normen und Prinzipien des internationalen Rechts beizulegen", wobei keinerlei Vorbedingungen für diese Verpflichtung genannt wurden.
Die Opposition in beiden Ländern reagierte dennoch mit scharfer Kritik an den Protokollen, was mit den Anmerkungen zu Bergkarabach zusammenhängt.
So schreibt Semih İdiz, Kolumnist der türkischen Zeitung "Milliyet": "Das Interessanteste an dieser Entwicklung ist, dass die nationalistische Opposition in der Türkei Krach schlägt, da Bergkarabach nicht als Vorbedingung genannt wird, die armenische Opposition jedoch ebenso protestiert, dass ebendiese Frage zwischen den Zeilen doch als Vorbedingung im Protokoll auftauchen würde."
Und Suat Kınıklıoğlu, Abgeordneter der regierenden AKP meint, dass "beide Länder in eine Phase treten, in denen die Kritik an den Protokollen sehr laut geäußert werden wird, doch wird man dieser Herausforderung entschlossen begegnen."
"Wenn es in Bezug auf Bergkarabach keine Bewegung gibt, wird es Sache des türkischen Parlaments sein, die Situation zu bewerten und auf dieser Grundlage eine Entscheidung zu treffen", fügte er hinzu.
Die Protokolle sehen vor, dass sie erst nach der Zustimmung beider Parlamente in Kraft treten können, also im besten Falle im Anschluss an die sechswöchigen Konsultationen. Doch selbst wenn diese Zustimmung exakt nach diesen sechs Wochen erfolgt, wird es noch weitere zwei Monate dauern, damit sie in Kraft treten können. Ankara erhofft sich von dieser verlängerten Phase einen Fortschritt in der Bergkarabach-Frage.
"Keine Probleme mit den Nachbarn"
Der türkische Außenminister Ahmet Davudoğlu, der häufig betont, dass das Ziel seiner Politik sei, "keine Probleme mit den Nachbarn" zu haben, sagte, dass die Türkei ein starkes Signal an die internationale Gemeinschaft ausgesandt hätte.
"Nun muss die internationale Gemeinschaft ihrer Verantwortung nachkommen. Gemeinsam sollten abgestimmte Anstrengungen erfolgen, um die Konflikte im Südkaukasus zu lösen", so Davudoğlu.
Hinsichtlich der armenischen Völkermordvorwürfe gegen die Türkei hält das zweite Protokoll zur Entwicklung der Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien fest, dass beide Staaten übereingekommen seien, "einen Dialog über die geschichtlichen Hintergründe zu führen, mit dem Ziel, gegenseitiges Vertrauen zwischen den Nationen aufzubauen, wozu auch eine unabhängige Untersuchung der historischen Aufzeichnungen und Archive gehört, um bestehende Probleme zu erkennen und entsprechende Empfehlungen auszusprechen."
Tatsächlich hat die Türkei bereits mehrfach die Einsetzung einer "gemeinsamen Geschichtskommission" vorgeschlagen, was bislang von Armenien jedoch mit der Begründung zurückgewiesen wurde, dass es keine Notwendigkeit gebe, eine solche offensichtliche historische Tatsache wie den "Völkermord an den Armeniern" zu untersuchen.
Türkisch-armenische Vergangenheitsbewältigung
"Die Einsetzung einer solchen Kommission würde bedeuten, den politischen Raum zu verlassen und in die Sphäre der Historie einzutreten. Darum werden die Protokolle von der armenischen Opposition als Dokumente des Landesverrats angesehen", unterstrich İdiz.
Doch trotz der Reaktionen beider Oppositionslager in der Türkei und in Armenien, stellten bisher viele Kommentatoren, wie etwa Hugh Pope von der "International Crisis Group", fest, dass die Türkei und Armenien einen mutigen und staatsmännischen Schritt unternommen hätten und dass letztlich beide Länder davon profitieren würden, sollten sie damit letztlich erfolgreich sein:
"Armenien wird nicht mehr länger glauben, dass es von Feinden umringt und sich wie im Belagerungszustand befindet. Es wird eine wirtschaftliche und psychologische Brücke zum Westen schlagen können und sich Europa annähern, es wird sich besser um die Interessen von Zehntausenden Armeniern kümmern können, die in der Türkei arbeiten. Und es wird seinen Energieüberschuss vermarkten können und schließlich auch einen leichteren Zugang zu den vielen kulturellen und religiösen Stätten der Armenier im Osten der Türkei bekommen", schreibt Pope weiter.
Doch auch der Türkei würde die Annäherung einen beträchtlichen Nutzen bringen, glaubt Pope. Sie wird ihren Partnern im Westen zeigen können, dass die Türkei bereit ist, die bis heute schwelende Frage der Massaker des Ersten Weltkriegs zu einem Abschluss zu bringen und dass die Türkei fähig ist, einen "entscheidenden Schritt auf dem Weg in Richtung Stabilität, Wohlstand und Kooperation mit den Nachbarstaaten im südlichen Kaukasus zu gehen. Schließlich würde die Türkei dann auch die volle Anerkennung ihrer Grenzen durch Armenien offiziell bestätigt bekommen."
Der sechswöchige Ratifizierungsprozess wird am 14. Oktober enden, nur zwei Tage vor dem Rückspiel zwischen der Türkei und Armenien, das diesmal im westtürkischen Bursa ausgetragen wird. Noch vor den letzten Entwicklungen hatte der armenische Präsident Sersch Sarkissjan verlauten lassen, dass er die Gegeneinladung Güls, das Spiel gemeinsam zu besuchen, nicht annehmen würde, sollte die Türkei nicht "ernsthafte Schritte" zur Öffnung der Grenzen unternehmen.
Zu dieser Aussage befragt, sagte Davudoğlu, dass er dennoch von einem Besuch Sarkissjans ausgehe und er fügte hinzu:
"Es ist ein gemeinsamer Ball, ein gemeinsames Fußballfeld, eine gemeinsame Region und ein gemeinsames Schicksal. Es spielt keine Rolle, auf welcher Seite des Spielfeldes sich der Ball gerade befindet, sondern in welche Richtung er rollt."
Ayşe Karabat
© Qantara.de 2009
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Qantara.de
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