Das säkulare Vermächtnis Indiens



Tharoor bedauert, dass "diese Einstellung wenig dazu beitrug, gute bilaterale Beziehungen mit Staaten zu fördern, die Indien nützlich sein konnten". Shashi Tharoor hätte sich statt der Gegnerschaft Nehrus zu den USA eine engere Bindung des jungen Indiens an diese Großmacht vorstellen können.
Noch schärfer geht der Autor mit den wirtschaftspolitischen Vorstellungen Nehrus ins Gericht, die sich stark am Sozialismus orientierten. Erklären kann sich Tharoor die Ablehnung des ersten indischen Premierministers gegenüber ausländischen Investoren mit den noch frischen Erinnerungen an die britische Kolonialzeit.
Dennoch sei die Haltung von Nehru falsch gewesen, dass zur politischen Unabhängigkeit auch die ökonomische Unabhängigkeit und Selbstversorgung treten müsse. "Dass eine solche Politik das indische Volk daran hinderte, sich von den Fesseln der Armut zu befreien, hat er nie eingesehen", klagt Tharoor.
Instrumentalisierung religiöser Konflikte
Angesichts der wachsenden Spannungen und Pogrome zwischen Religionen und Kasten im modernen Indien des 21. Jahrhunderts will Tharoor den säkularen, pluralistischen Nationalismus Nehrus in Erinnerung rufen. Gleichzeitig versucht er, dieses Vermächtnis Nehrus einer marktwirtschaftlichen Politik in Indien dienstbar zu machen.
Die steigende Bedeutung von Religion und Kaste in der modernen indischen Gesellschaft führt Tharoor auf die staatlich gelenkte Politik zurück, die eine Vetternwirtschaft hervorgebracht habe, die sich an partikularen Identitäten und Interessen orientiere.
Vom wirtschaftlichen Wachstum, das mit der Marktöffnung Anfang der 90er Jahre eingeleitet wurde, verspricht sich Tharoor hingegen eine Liberalisierung der Gesellschaft und eine Aufweichung der Kasten- und Religionsgrenzen.
Nehru bezeichnete die interreligiösen Konflikte kurz vor der indischen Unabhängigkeit als "Deckmantel für handfeste wirtschaftliche Interessen".
Und andere Nehru-Biographen wie Tariq Ali weisen darauf hin, dass die Briten sich die Spannungen zwischen Hindus und Muslimen zwar zu Nutze gemacht hätten, die Kongresspartei jedoch den Forderungen Nehrus nicht zu genüge nachgekommen sei, um die letztendliche Spaltung des Subkontinents zu verhindern.
Nehru habe immer wieder betont, dass bloßer Nationalismus nicht ausreiche, um den säkularen Charakter der Kongresspartei langfristig zu festigen. In seiner Rede als Parteivorsitzender auf dem Parteitag 1936 in Lakhnau habe er deshalb von der Notwendigkeit gesprochen, Interessen entlang der Klassen- und nicht der Religionszugehörigkeit zu definieren. Dieses Vermächtnis Nehrus würde Shashi Tharoor sicher nicht teilen.
Gerhard Klas
© Qantara.de 2006
Shashi Tharoor: Die Erfindung Indiens – Das Leben des Pandit Nehru, Insel Verlag 2006, 312 Seiten, 19,80 Euro
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