Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern



Anstoß erregte zum einen die Verwendung von tagesaktuell konnotierten Begriffen wie "Warlords" für die kurdischen Stammesführer, welche massiv an den Überfällen und Massakern mitwirkten, zum anderen Termini aus dem Holocaust-Jargon: "Topografie des Terrors", Totenkopfbrigade, Konzentrationslager, Endlösung ...
Tatsächlich aber erscheinen viele Kapitel der von Hosfeld erzählten Geschichtstragödie erschreckend bekannt: Das betrifft die Hetzpropaganda und so genannte "Dolchstoßlegenden" von einem mit dem äußeren Feind paktierenden inneren Verräter oder eine Paranoia, die in jeder verdächtigen Handlung einzelner Armenier gleich Beweise für die Schäbigkeit der gesamten Rasse sah.
Ferner trifft dies auf die als "Umsiedlungsaktionen" getarnten Todesmärsche in die syrische Wüste zu, auf die landesweit organisierte Deportation in Viehwaggons, die Massenerschießungen und die "statistische" Auswertung der Säuberungsaktionen in einzelnen Landstrichen.
An die aktuellen Debatten (um Götz Alys "Hitlers Volksstaat") erinnert schließlich auch der wirtschaftliche Nutzen, den die jungtürkische Entourage und ihre Helfershelfer aus den Plünderungen, Übereignungen oder dem "Kauf" (zu Dumpingpreisen) der armenischen Ländereien, Betriebe, Geschäfte und Häuser zogen: wer aktiv mitmachte, profitierte.
So spinnt sich mehr als nur ein Faden zum Dritten Reich, nicht nur angesichts des kolportierten Zitates "Wer denkt heute schon an die Vernichtung der Armenier?", mit dem Hitler seine eigenen Pläne absegnete, und angesichts der in beiden Fällen generalstabsmäßig geplanten und organisiert durchgeführten Deportation und Vernichtung.
Die Haltung Deutschlands
Worauf nun Rolf Hosfeld besonderes Augenmerk legt, ist der deutsche Anteil an der sich über Monate hinziehenden Tragödie. Die jüngste Zurückhaltung der Bundesregierung bei der Benennung des Völkermords als solchem mag sich teilweise auch aus der damaligen deutsch-osmanischen Waffenbrüderschaft bei Kriegsausbruch erklären.
Hosfeld zitiert die von erschütterten deutschen Militärberatern und Regierungsangehörigen bei der Reichsleitung in Berlin eingereichten Bitten um Intervention und Schutz der Armenier. Und er nennt auch die von Reichskanzler Bethmann-Hollweg ausgegebene Losung, dass man wegen des Kriegszustandes dem Bündnispartner nicht in den Rücken fallen und auf die Armenier keine Rücksicht nehmen könne.
Verschiedenen Berichten zufolge waren einzelne deutsche Offiziere aktiv am Aufbau der aus freigelassenen Sträflingen rekrutierten "Sonderkommmandos" ("Teskilati Mahsusa"), also der Mordbataillone, beteiligt; erste Deportationspläne gehen zurück auf den stellvertretenden Stabschef der Osmanischen Armee, Generalstabsoffizier Colmar Freiherr von der Goltz.
Andererseits setzten sich zahlreiche Deutsche, wie der Missionar Johannes Lepsius oder der Schriftsteller Armin T. Wegener, unermüdlich und verzweifelt für eine Bekanntmachung und Beendigung der Gräueltaten ein und bemühten sich später sehr darum, diese zumindest zu dokumentieren.
Die Deutschen haben sich an diesem Schauplatz zweifelsohne die Hände schmutzig gemacht, vor allem durch Mitwisserschaft, scheinen aber hinsichtlich der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte erheblich weiter als die Türken, wie die jüngsten Drohungen gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk zeigen.
Rolf Hosfelds beeindruckende Rekonstruktion einer krisenhaften Epoche lässt auch erkennen, wie viele der damaligen Dispositionen - übersteigerter Nationalismus, Minderwertigkeits- und Größenfantasien, Überfremdungsängste - immer noch aktuell sind, und lässt so manche Empfindlichkeiten der modernen Türkei besser verstehen.
Hosfelds Recherche
Hosfeld hat ausgiebiges Quellenstudium betrieben: Fußnoten und Quellenapparat nennen die einschlägigen internationalen Archive, die Faktenfülle speist sich aus den Aussagen von Überlebenden, Tätern und Augenzeugen. Seite für Seite fügen sich Zeitungsartikel, Briefe, Depeschen, Telegramme, Tagebuchnotizen, Gerichtsprotokolle und Zeugenaussagen zu einem vielstimmigen Klagegesang, der sich dem Leser unter die Haut brennt.
Die angesammelten Materialmengen präsentiert der Autor in einem durchgängig packenden Stil, ohne dabei ins Populärwissenschaftliche abzugleiten: weder stellt er alle Türken unter Generalverdacht, noch übergeht er armenische Terroristen, auf deren Existenz heutige Nationalisten ihre Leugnungsstrategien aufbauen.
Wer daran interessiert ist, wie kunstfertig sämtliche Argumente und Fakten verdreht werden, und warum die Armenier selber an allem schuld sein sollen, kann dies in einschlägigen Chatforen nachlesen oder in Erich Feigls Klassiker "Ein Mythos des Terrors."
In der Tat ist das Thema ein gefährliches, ideologisch vermintes Gelände, und über manche Details existieren allein aufgrund der historischen Distanz mehrere Versionen. Bücher wie "Operation Nemesis" sollten ein für alle Mal prinzipielle Zweifel an den historischen Ereignissen ausräumen und Platz schaffen für eine richtige Vergangenheitsbewältigung. Danach sieht es zurzeit leider nicht aus.
Amin Farzanefer
© Qantara.de 2005
Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2005
Qantara.de
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