Von der Provinzrealität zu Problemen des Individuums




Das Auftreten prägender Schriftsteller von den 80er Jahren bis ins 21. Jahrhundert hinein und die Begründung einer modernen türkischen Literatur lassen sich mit der Öffnung für äußere Einflüsse in Literatur und Kultur erklären, wie sie sich seit den 1960er Jahren entwickelt hatten. Für den Roman sind vier herausragende Namen zu nennen: Orhan Pamuk, Mehmet Eroglu, Ahmet Altan, Latife Tekin.
Diese Autoren, die unterschiedliche Motive im Roman verarbeiteten - von der historischen und sozialen Struktur der Türkei bis hin zum Problem individuellen Daseins, von der ausweglosen menschlichen Situationen in Zeiten des Wandels bis hin zum chronistischen Intellektuellenbewusstsein - kann man als Pioniere des "neuen Romans" bezeichnen.
Eine Darstellung anderer Art findet sich in den achtziger Jahren bei jenen Schriftstellerinnen, die die "Frauenfrage", die Ergründung weiblicher Existenz thematisieren. Inci Aral und Erendiz Atasü beleuchten in ihren Werken Probleme, die sich um die Achse der Geschlechterbeziehungen drehen. Beachtenswerter noch als das Erwachen ihres Bewusstseins war ihre Feststellung der Existenz dieser Problematik.
In der gleichen Phase sorgten auch Autoren wie die in Deutschland bekannten Murathan Mungan, Hasan Ali Toptas, Ahmet Ümit oder Elif Safak mit Romanen und Erzählungen für Aufsehen.
Das Verständnis von Regionalliteratur zerbricht
Es lässt sich beobachten, dass im literarischen Klima der 80er der Roman stärker hervortrat. Schrittweise fand die Populärkultur das Interesse breiter Bevölkerungskreise. In einer Gesellschaft, die gerade erst begann, sich "Hobbys" zuzulegen, wurde das Lesen eine Notwendigkeit.
Für den Roman dieser Zeit lassen sich zwei Fakten feststellen: Die Geschichte wurde zum Thema für Romane, und der Krimi begann als eigenständiges Genre Interesse zu wecken. Das Verständnis einer Regionalliteratur, wie sie seit den 30er Jahren bestanden hatte, verlor sich, die Probleme der Sozialisierung sowie die neue Weltordnung eroberten sich ihren Platz in der Literatur.
Auch wurden Romane über den Sinn von Gesellschaft, über das Gestern im Licht des Geschichtsbewusstseins wie auch über das Heute geschrieben.
Nobelpreis für Orhan Pamuk
Die Vorstellung, der Roman sei ein probates Mittel, um die Gesellschaft und den Menschen in der Gesellschaft zu begreifen, setzte sich durch. In gewisser Hinsicht war die Akzeptanz der Idee, dass der Weg zur Aufklärung über den Roman führe, mit ein Grund dafür, dass er zu einer der häufigsten literarischen Ausdrucksformen wurde.
Der Roman ist jenes Genre, in dem die Prosa ihr Dasein und ihre Reife am besten erweisen kann, weshalb er auch in der Wahrnehmung der türkischen Literatur im Ausland in den Vordergrund trat. In diesem Sinne ist nicht zu unterschätzen, welchen Einfluss der hohe Entwicklungsstand der türkischen Prosa auf die Entwicklung hat, die Orhan Pamuk den Nobelpreis einbrachte.
Neben dem verstärkten Ausdruck weiblicher Stimmen und der Thematisierung weiblicher Existenz, der Identitätssuche und –problematik in den 80er Jahren etablierten sich gleichzeitig auch Themen wie Stadt, Verstädterung, Migration, Identitätssuche, Ost-West-Konflikt, Sexualität, Geschlechterbeziehungen, Minderheitenidentität, Sozialgeschichte, politische Realität, Provinzrealität, Ausweglosigkeit des Individuums und Entfremdung.
Die Modernisierung der Literatur
Die Literatur der vergangenen dreißig Jahre ging das Abenteuer ein, die Modernisierung, wie sie in der "frühen republikanischen Phase" seit etwa 1900 eingesetzt hatte, fortzuentwickeln.
1900-1930 war die Phase des Kennenlernens, der Definition von Gesellschaft und der Formulierung ihrer Probleme; 1940-1960 gesellte sich eine literarische Idee hinzu, so dass nun nicht nur danach gefragt wurde, was warum zu erzählen sei, sondern auch darauf geschaut wurde, wie es zum Ausdruck gebracht werden solle.
In der Phase nach 1970 wurde nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung thematisiert, sondern auch die Außenwelt mit einbezogen. Die internationalen Geschehnisse erhielten verstärkt Beachtung, und es wurde erprobt, wie der Blick auf die eigene Gesellschaft gestaltet werden könne.
Neben der Idee, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, entstand die Überzeugung, das Leben aus der Literatur heraus begreifen und abbilden zu können.
Diese Epoche brachte den Begriff des "neuen Schriftstellers" in der türkischen Literatur hervor: Nun traten solche Schriftsteller in den Vordergrund, die sich nicht mehr nur mit dem eigenen Text beschäftigten, sondern das Leben aus vielerlei Perspektiven betrachten und bewusst darüber schreiben konnten.
Feridun Andaç
© Qantara.de 2007
Übersetzung aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
Qantara.de
Orhan Pamuk:
Istanbul – Erinnerungen an eine Stadt
Orhan Pamuks Essayband "Istanbul" schildert ein Stück der Geschichte der Metropole am Bosporus – ein lesenswertes Buch, in dem der Literaturnobelpreisträger Orte und Gegenstände selbst sprechen lässt. Von Zafer Senocak
Elif Shafak:
Die Heilige des nahenden Irrsinns
Die preisgekrönte Autorin Elif Shafak zählt zu den wichtigsten Schriftstellerinnen der Türkei. Dieses Jahr erschien ihr Roman "Die Heilige des nahenden Irrsinns", das erste Buch, das die in den USA lehrende Dozentin für Interkulturelle Studien auf Englisch verfasste.
Interview mit Hasan Ali Toptas
"Als idealen Leser stelle ich mir mich selbst vor"
Der türkische Schriftsteller Hasan Ali Toptas wurde 2006 mit dem angesehensten Literaturpreis der Türkei, dem Orhan-Kemal-Preis, ausgezeichnet. Sein erster Roman in deutscher Übersetzung erschien unter dem Titel "Die Schattenlosen" beim Unionsverlag. Fatma Sagir hat mit dem Autor gesprochen.