Auf der Flucht
Mitten in der Flüchtlingskrise im Sommer 2015 bekommt der Frankfurter Entwicklungshilfe-Unternehmer Abbas plötzlich Besuch von seinem Großcousin aus Teheran, den er zuvor noch nie gesehen hat – und kaum fünfzig Seiten später versinkt sein bis dahin so wohlgeordnetes Leben im Chaos. "Je schneller wir das hier erledigen, desto besser", denkt Abbas, den seine deutschen Freunde Abbé nennen, denn dann kann er, der es gewohnt ist, alle Fäden fest im Griff zu haben, zur Tagesordnung übergehen. Aber natürlich läuft absolut nichts so, wie es laufen soll...
In seinem dritten Roman "Der Großcousin" hat der in Iran geborene und in Frankfurt lebende Schriftsteller Nassir Djafari das Gaspedal fast von der ersten Seite an durchgetreten und liefert eine so atemlos spannende wie hochaktuelle Geschichte von Flucht und Exil, wie man sie in der Kombination in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur selten findet.
Er erzählt von einem Protagonisten, der es sich im wohlhabenden bürgerlichen Milieu gemütlich gemacht hat. Er reist um die Welt und verdient gut mit Hilfsprojekten, wobei er stets diplomatischer Jongleur bleiben muss, um mit korrupten Beamten umzugehen. Oder er lässt Vorsicht walten, um Geldgebern vor Ort nicht auf die Füße zu treten.
Kein einfacher Job, und Abbas spürt, dass er nicht mehr der Jüngste ist. Seiner Frau, die ein Reisebüro betreibt, wäre es auch lieber, er würde nicht dauernd zu Dienstreisen ans andere Ende der Welt aufbrechen.
Die Wurzeln verloren
Seine iranischen Wurzeln hat Abbas weit hinter sich gelassen. Sein Persisch ist lückenhaft, die großen iranischen Dichter kennt er nur dem Namen nach, und wann er zuletzt Chelo Kabab gegessen hat, weiß er nicht mehr. Beruflich hat er mit Iran nichts zu tun, die laufenden Projekte liegen in Südafrika, seine engsten Kollegen haben Namen wie Warnke oder Müller.
Die Verbindung zu seiner Herkunft hält er nur über den Vater, der in einem Pflegeheim die letzten Tage verbringt. Abbas besucht ihn jede Woche, der Vater bleibt für ihn ein Fixpunkt und eine Autorität, auch jetzt noch, wo ihm langsam aber sicher Körper und Geist versagen.
Die Geschichte der Eltern und ihre schwierige Ankunft im Deutschland der Sechziger Jahre, von der Djafari in seinem Roman "Mahtab“ (Sujet Verlag 2022) erzählt hat, sowie von Abbas' Bruder Hamid und dessen Ich-Suche nach der Midlife Crisis (nachzulesen in Djafaris fulminanten Debüt "Eine Woche, ein Leben“, Sujet Verlag 2020) sorgen wohl ebenso wie das teils unwürdige Geld- und Postengeschacher in der Entwicklungszusammenarbeit (die der Autor aus seinem eigenen Berufsleben gut kennt) dafür, dass dieser Abbas sich nach klaren Strukturen sehnt, vor allem privat, zu Hause.
Doch als sein Großcousin Reza vor der Tür steht, gerade aus Iran angekommen, ist es vorbei mit der Berechenbarkeit eines gemütlichen Alltags.
In Widersprüche verstrickt
Rezas Besuch ist kurz. Er habe einen Job, komme klar, brauche aber ein wenig Geld. Abbas gibt es ihm und bietet seine Unterstützung an, rät Reza, rasch Deutsch zu lernen. Doch Reza taucht ab und erst Wochen später wieder auf. So geht es eine Weile, und Abbas ist es recht, wenn er sich mit gelegentlicher finanzieller Unterstützung den Verwandten vom Hals halten kann.
Zumindest bis er merkt, dass dessen Geschichte nicht stimmen kann, dass er sich in Widersprüchen verheddert. Und eines Abends steht plötzlich noch Rezas Frau samt Neugeborenem vor der Tür: Die junge Familie sei aus ihrer Wohnung geflogen, weil sie die Miete nicht zahlen konnte – angeblich. Das entstehende Chaos verhagelt Abbas' Flug nach Kapstadt, wo ihm gerade alles entgleitet. Das Fortbestehen seines Unternehmens steht auf dem Spiel.
Und als Abbas samt Reza und Anhang in eine Polizeikontrolle geraten, überschlagen sich die Ereignisse. Wer ist dieser Reza? Ein politischer Flüchtling? Was ist seine Geschichte? Wer ist Forugh, seine Frau, die offenbar schon länger in Frankfurt weilt? Und warum soll Abbas der Familie in Teheran gegenüber Stillschweigen bewahren?
Zerrüttung schleicht sich ins Leben
Stück für Stück erfährt Abbas gemeinsam mit dem Leser, was vor sich geht, während Djafari zeigt, aus welch unterschiedlichen Gründen Menschen repressive Systeme wie das iranische, das tief ins Privatleben seiner Bürger eingreift, verlassen müssen, ob sie nun wollen oder nicht.
Gleichzeitig liest man auch, wie schwierig die Ankunft in einem Land wie Deutschland ist, wo Menschen oft schon aufgrund von Hautfarbe oder Namen Probleme bekommen, nicht nur mit den Behörden.
Die Form des atemlosen Spannungsromans tut dieser Geschichte sehr gut, sie lässt einem als Leser keine Pause, um innezuhalten, ganz zwangsläufig durchlebt man wie der Protagonist selbst die Zerrüttung, die sich in ein nur auf den ersten Blick geordnetes Leben schleicht.
Obwohl man zwar den "Großcousin" für sich stehend lesen kann, entfaltet er doch erst im Zusammenspiel mit Djafaris anderen beiden Romanen seine ganze Wucht. Die Bücher sind eng miteinander verzahnt und zugleich eigenständig. Sie bilden eine Trilogie einer Familiengeschichte, deren ganze Komplexität sich erst mit diesem dritten Buch wirklich offenbart.
Djafari, der erst in seinen späten Sechzigern zu schreiben begonnen hat, bietet große Literatur mit gesellschaftlichem Gewicht, die große und schwere Themen anpackt, ohne je anstrengend zu sein oder angestrengt zu wirken. Das gelingt nur wenigen Autoren, vor allem nicht, wenn sie erst am Anfang ihrer literarischen Karriere stehen. Bei Nassir Djafari wirkt alles ganz leicht. Das ist aber nur eine von vielen Stärken dieser drei Romane.
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Nassir Djafari wurde 1952 in Iran geboren und lebt seit seinem fünften Lebensjahr in Deutschland. Er studierte in Frankfurt Volkswirtschaft und arbeitete in der deutschen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit.