Pionier moderner kritischer Islamwissenschaft


Die so dringend erforderlichen Perspektivwechsel erreichte er, indem er sowohl moderne Erkenntnisse der Sozial- und Geisteswissenschaften als auch deren Methoden auf die Beschäftigung mit dem Islam übertrug und diese durch eigene Konzepte ergänzte bzw. erweiterte. Das erfolgte sehr früh, das heißt parallel zur Formierung der großen geistesgeschichtlichen Strömungen des 20. Jahrhunderts wie Strukturalismus, Semiotik, strukturale Anthropologie, Diskursanalyse oder Postmodernismus.
Mit diesem sehr eigenwilligen Ansatz verließ er das zum Teil selbst gewählte methodische Ghetto der Islamforschung und entwarf Gegenstrategien, die allerdings nicht immer auf Gegenliebe stoßen sollten. Sie finden ihren Ausdruck zum Beispiel in seinem Anliegen einer angewandten Islamwissenschaft oder den theoretischen Konzepten von koranischer und islamischer Wirklichkeit, der Buchgesellschaften, des Ungedachten und Undenkbaren. Diese wirkten sich nachhaltig auf seine Annäherung an den Koran aus. Die von der Schule der Annales entwickelte Analysekategorie des imaginaire übertrug er sehr früh auf vom Islam geprägte Gesellschaften und das islamische Denken und differenzierte es immer stärker aus.
Ein Intellektueller in der Revolte
Arkouns Gedankenwelt und die von ihm entwickelten und im Laufe seines Forscherlebens immer klarer konturierten Konzepte sind komplex und kompliziert und am ehesten mit der Metapher eines Rhizoms oder dem unendlichen Sternenmuster maurischer Fayencen zu vergleichen: ein enges Geflecht sich immer weiter verzweigender Aspekte, deren eigentlicher Ursprung schwer auszumachen ist und die sich überdies immer weiter verzweigen und neue Verbindungen entstehen lassen. Gerade das Rhizom steht für den von Arkoun so dringlich erachteten Paradigmenwechsel: Ganzheitlichkeit statt Dualismus, Vielfalt statt Einheitlichkeit. Das entspricht seinem integrativen Ansatz: Das Ganze lässt sich nur innerhalb einer radikalen Bedeutungspluralität und Vielschichtigkeit entfalten.
Mohammed Arkoun war nicht nur ein scharfsinniger Intellektueller und Humanist aus tiefstem Herzen mit einem feinsinnigen Humor, sondern auch ein leidenschaftlicher, charismatischer Redner und engagierter Lehrer. Er fühlte sich "all dem zugehörig, was der Intelligenz neue Verbindungen zu eröffnen vermag!" und verstand sich selbst als "ein Intellektueller in der Revolte".
Möge er Recht behalten, dass Gedanken ein Eigenleben entwickeln und weiterhin ihre Wirkung jenseits der Mauern kognitiver Grenzziehungen und dominanter Ideologien entfalten.
Ursula Günther
© Qantara.de 2010
Dr. Ursula Günther ist Islamwissenschaftlerin. Ihre Dissertation "Mohammed Arkoun – Ein moderner Kritiker der islamischen Vernunft" ist 2004 beim Ergon-Verlag erschienen.
Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de
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Ursula Günther
Mohammed Arkoun- Ein moderner Kritiker der islamischen Vernunft
Das Denken des Algeriers Mohammed Arkoun fand bisher kaum Eingang in den intellektuellen Diskurs in Deutschland. Auch die deutsche Islamwissenschaft hat sich mit ihm kaum auseinander gesetzt. Die Dissertation "Mohammed Arkoun - Ein moderner Kritiker der islamischen Vernunft" von Ursula Günther versucht diese Lücke zu schließen.
Nachruf auf Nasr Hamid Abu Zaid
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Der international bekannte ägyptische Koranforscher Nasr Hamid Abu Zaid gehörte zu den führenden islamischen Reformdenkern der Gegenwart. Seine diskursanalytische Untersuchung des Koran legten den Grundstein für ein zeitgemäßes Verständnis des Islam. Abu Zaid ist im Alter von 66 Jahren in Kairo gestorben. Eine Würdigung von Loay Mudhoon
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Welche Ansätze bietet der Islam zur Reform und Demokratisierung der modernen muslimischen Gesellschaften? Qantara.de stellt Positionen und Initiativen renommierter Denker aus der islamischen Welt vor.