Eine Gesellschaft des Verdachts



Deutschland sei auch ein hervorragendes Spiegelbild für die Veränderung, die seine Heimat schon durchlebt habe, meint John le Carré. "Ich hatte das Gefühl, Deutschland würde sich immer noch nachhaltig dagegen wehren, dem amerikanischen Weg zu folgen, den hohen Level von Überwachung zu akzeptieren." Mittlerweile habe er das Gefühl, dass Deutschland am Scheideweg stehe.
"Deutschland hat mehr geschützte Bürgerrechte als jedes andere europäische Land", hebt le Carré hervor. "Die Frage ist nun, wie viel davon aufs Spiel gesetzt wird bei dem, was sich leicht als eine kolonialistische Haltung bezeichnen ließe, die offiziell aber 'Krieg gegen den Terror' genannt wird."
"Die USA sind in einer Phase historischen Wahnsinns"
John le Carré, der sich mehrmals für seine Recherchen mit Murat Kurnaz traf, hat schon lange vor seinem neuem Buch den so genannten "Krieg gegen den Terror" heftig kritisiert. Unter Georg W. Bush sei Amerika in die schlimmste Phase historischen Wahnsinns eingetreten.
Die Wahl Obamas bezeichnet er als historischen Moment wie einst den Fall der Berliner Mauer: "Wir wollen jetzt wissen, was Obama wirklich will? Wer er ist?" Le Carré fordert von ihm etwa die Schließung geheimer Gefängnisse.
John le Carré gibt zu, dass er in den letzten Jahren politischer geworden sei und vor allem wütender. Die Täuschung der Gesellschaft durch Politik und Medien habe einen Grad erreicht, der höchst gefährlich sei. In seinem vorletzten Roman "Der ewige Gärtner" geht es um die Machenschaften der Pharmaindustrie in der dritten Welt.
Die Ausbeutung der dritten Welt, die dadurch verursachte Armut und Unterdrückung könne auch zum Terror führen. "Aber wer das behauptet, wird noch wie ein Ketzer behandelt", so le Carré.
Anfang der 1980er Jahre verbrachte le Carré als er an seinem Roman "Die Libelle" schrieb, einige Wochen in einem Palästinenser-Lager. Nach dem Ende des Kalten Krieges sei die amerikanische Ideologie-Maschinerie sofort auf den Islam als neuen Feind umgeschwenkt. Daran könne er sich aber nicht beteiligen. Er habe sich mit dem Islam beschäftigt und habe viele muslimische Freunde.
Wut über die ausbleibende Empörung
"Wenn man mal in die Krisengebiete geht und sich in die Lage eines palästinensischen Kindes versetzt, versteht man vieles besser", so le Carré. Die Ohnmacht und Erniedrigung, die diese Menschen täglich erfahren, führe fast zwangsläufig zu einer Psychose.
In den palästinensischen Flüchtlingscamps habe er Leute getroffen, die alte Papiere hervorgezogen hätten, in denen geschrieben stand, wie ihre alten Grundstücke durch eine britische Verfügung den Israelis überschrieben worden seien. "Diese Leute wurden von uns belogen", so le Carré.
Auch in Iran hätten die amerikanischen und britischen Geheimdienste die liberale islamische Bewegung unter Mossadegh bekämpft, den Schah an die Macht gehievt, was indirekt die schiitische Revolution auslöste: "Wir stoppten also den Liberalismus und waren letztendlich die Architekten dieser Radikalisierung."
Trotz seiner 77 Jahre ist John le Carré angetrieben von Wut, von der Wut darüber, dass in der Gesellschaft so wenig Empörung darüber herrscht, was mit unserer Gesellschaft passiert.
Eren Güvercin
© Qantara.de 2008
John le Carré, Marionetten, Ullstein Hc Verlag, November 2008
Qantara.de
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