Die Beschleunigung der Geschichte





Hodgson meint nun, es sei Ali zwar gelungen, in Ägypten die traditionelle Ordnung zu durchbrechen und das Land zu modernisieren, doch habe er auch feststellen müssen, dass "zwei Jahrhunderte ständigen sozialen und geistigen Wandels in Europa an Ägypten spurlos vorübergegangen waren. Dieses Defizit hatte zur Folge, dass Ali bestimmte enge Grenzen nicht seinen Absichten entsprechend einziehen konnte: Grenzen, die damals noch ungewohnt waren, bald aber schon ganz normal sein würden."
Dass Muhammad Ali Ägypten zu neuem geistigen Leben verhelfen wollte, lässt sich paradigmatisch an dem modernen Bildungssystem erkennen, das er einführte. Dieses war an westliche Vorbilder angelehnt, der Schwerpunkt lag auf technischer und naturwissenschaftlicher Ausbildung.
Doch den guten Absichten zum Trotz sei die Wirkung dieser Bemühungen bisweilen geradezu "destruktiv" gewesen, meint Hodgson. Die gesellschaftliche Kluft zwischen einer kleinen Elite, die eine westlich-säkulare Ausbildung genoss, und der breiten Masse, die davon ausgeschlossen blieb, wurde immer größer.
Die Schüler und Studierenden der Elite, so Hodgson, verfügten "kaum über fundierte Kenntnisse der islamischen Geschichte ihres Landes und trafen in ihrem sozialen Umfeld auf ebenso wenig Sympathie, wie sie diesem Umfeld entgegenbrachten." Die Wahrung der "kulturellen Kontinuität des Landes" blieb insofern der anderen Gruppe überlassen, also jenen, die eine traditionelle Ausbildung genossen.
Modernisierungsprozess mit Rückschlägen
Was bei den ägyptischen Reformen unter dem Strich herauskam, hat die Debatten, die in der muslimischen Welt bis heute über Religion, Säkularisierung und Demokratie geführt werden, nachhaltig geprägt, meint Marshall Hodgson:
"Die einen waren vom Lernen mit Hilfe moderner Bücher besessen, was zu einer gewissen Entfremdung von ihren Landsleuten führte, zumal sie über die eigene Religion fast nichts mehr wussten. Die anderen wurden zunehmend zu Hütern jener Religion, zu unberufenen allerdings, da sie von den geistigen Quellen der modernen Lebens abgeschnitten waren."
Was in Ägyptens vorgefallen sei, habe sich "in vielen Ländern der östlichen Hemisphäre, in denen eine städtische Bildungskultur vorherrscht", wiederholt, meint Hodgson, "wenn auch in anderer, meist weniger klar erkennbarer Form und unter verschiedenen Rahmenbedingungen."
Die muslimische Moderne sei von einem klaren Bruch durchzogen, sei geprägt von "drastischer Diskontinuität". Das ist wichtig, nämlich als Ergänzung zur Sichtweise von Filali-Ansary, demzufolge im muslimischen Kulturkreis die Säkularisierung der Reformation des Glaubens vorangegangen sei – "anders als in Europa, wo die Säkularisierung eher eine Folge der Reformation war."
Hodgsons Beobachtung, dass die muslimischen Gesellschaften keinen von ihrer Basis ausgehenden "stabilen sozialen und geistigen Wandel" erfahren haben, der der staatlich oktroyierten Modernisierung entsprochen hätte, zeigt, wie unterentwickelt die politische Kultur dieser Länder ist.
Anders gesagt: Weil das Verhältnis von Religion zu weltlicher Macht, wie es heutzutage in muslimischen Gesellschaften die Norm darstellt, keinerlei Beeinflussung seitens etwa einer Reformationsbewegung erfahren hat, konnten sich in der muslimischen Welt bislang auch kaum Säkularisierungstendenzen herausbilden.
Die Kluft zwischen staatlich verordneter Säkularisierung und nicht-säkularer politischer Basiskultur erklärt zum Teil auch, warum fundamentalistische Parteien mit ihrem Ruf nach einem "islamischen Staat" heutzutage oft erfolgreich sind.
Nur eine Minderheit der Bevölkerung hat Zugang zu Bildung nach westlichen Standards gehabt. Nur sie konnte sich säkulare Sichtweisen tatsächlich zu eigen machen. Ein bedeutsamer Teil einer jeden muslimischen Gesellschaft reagiert jedoch positiv auf Bestrebungen, Religion und Staatswesen stärker zu integrieren, und lehnt eine Säkularisierung der Gesellschaft insgesamt ab.
Das Thema hat sicher noch viele Facetten, doch die hier aufgezeigten Hintergründe sind für ein Verständnis seiner Vielschichtigkeit zentral.
Nader Hashemi
Übersetzt aus dem Englischen von Ilja Braun
© Nader Hashemi 2009
Dieser Artikel ist ein Auszug aus Nader Hashemis Buch "Islam, Secularism, and Liberal Democracy: Toward a Democratic Theory for Muslim Societies", Oxford University Press, 304 pages.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
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