Eine islamische Bioethik-Debatte im Rahmen der Scharia



Grenzen medizinischen Handelns sehen die Rechtsgelehrten in der Regel dort, wo in ihren Augen ein Schaden für die Gesellschaft oder ein Eingriff in die Schöpfung Gottes vorliegt. Entscheidend ist also die Definition des Gottgewollten. Dies lässt sich am Beispiel der Geschlechtsumwandlung illustrieren. Die sunnitischen Gelehrten gehen davon aus, dass in der gottgewollten Ordnung nur zwei klar voneinander abgegrenzte Geschlechter existieren.
Das bedeutet, dass wenn ein Mensch äußere Merkmale beider Geschlechter aufweise, es sich nur darum handeln könne, dass ein "wahres Geschlecht" von Merkmalen des anderen Geschlechts überdeckt werde. Ein Hermaphrodit sei also je nach Befund zum Beispiel ein Mann, der auch weibliche Geschlechtsmerkmale habe. Eine Operation wird hier erlaubt, weil sie eben gerade keinen Eingriff in die göttliche Schöpfung darstelle sondern dazu diene, die gottgewollte Ordnung wieder eindeutig zu machen.
Eine Geschlechtsumwandlung aufgrund psychologischer Faktoren (also zum Beispiel dass ein Mann sich als im falschen Körper geboren empfindet und sein Geschlecht umwandeln lässt) ist demgegenüber für die sunnitischen Gelehrten ein klarer Verstoß gegen Gottes Ordnung und ein Eingriff in seine Schöpfung. Dementsprechend verbieten sie dies.
Wie weit liegen die Auslegungen von schiitischen und sunnitischen Rechtsgelehrten auseinander?
Eich: In mehreren Bereichen liegen sie sehr weit auseinander. So erlauben schiitische Gelehrte z.B. die Geschlechtsumwandlung aus psychologischen Gründen. Auch ist die heterologe Insemination im Iran erlaubt.
Ist die ethische Normsetzung und Auseinandersetzung mit medizinethischen Fragen auf einzelne islamische Rechtsgelehrte beschränkt?
Eich: Es gibt eine Reihe von Rechtsgelehrten, die sich inzwischen stark auf bioethische Themen spezialisiert haben wie etwa Muhammad Mukhtar al-Salami aus Tunesien, Ra'fat Uthman aus Ägypten oder der in Kuwait lehrende Abd al-Fattah Idris. Andere bekannte Rechtsgelehrte wie Ayatollah Fadlallah, Yusuf al-Qaradawi oder Wahba al-Zuhayli äußern sich aber im Rahmen des von ihnen abgedeckten weiten Spektrums auch gelegentlich zu diesen Fragen.
Im Nahen Osten, Pakistan, Iran aber auch in der Türkei wird zunehmend in biomedizinische Forschung und Behandlungen investiert. Zeichnet sich eine regionale Dominanz im Forschungsbestreben und -erfolg in der islamischen Welt ab?
Eich: Ja, ich würde Iran und Saudi-Arabien als die zwei führenden Standorte einstufen.
In den deutschen Medien und öffentlichen Debatten hat die islamische Sichtweise in bioethischen Fragen eine untergeordnete bis gar keine Rolle gespielt. Sieht das in der internationalen Forschungsgemeinschaft anders aus?
Eich: Bei der UN und der UNESCO sind Staaten muslimischer Mehrheitsbevölkerungen fest vertreten und speisen die islamische Sichtweise in den internationalen Diskussionsprozess ein.
Inwiefern hat die Art und Weise, wie ein Land bioethische Fragen bewertet, auch eine politische und wirtschaftliche Dimension?
Eich: Im Rahmen wachsenden Medizintourismus' ist der wirtschaftliche Nutzen der Einführung einer bestimmten Therapie oder Behandlungsform zum Beispiel von Unfruchtbarkeit offensichtlich. Dabei variiert der Kundenkreis je nach Angebot: bei Unfruchtbarkeitsbehandlungen steht regionale Reisetätigkeit im Vordergrund (beispielsweise kommt die erdrückende Mehrheit der Nachfragen nach IVF-Behandlungen in Jordanien aus dem Land sowie den arabischen Nachbarstaaten, nicht jedoch aus Europa), während bei anderen Therapien – wie etwa Krebsbehandlungen – in Saudi-Arabien eher ein weltweiter Kundenkreis angepeilt wird.
Die politische Dimension der Bewertung bioethischer Sachverhalte liegt meiner Ansicht nach vor allem darin, dass die öffentliche Diskussion über diese Fragen eine Debatte über das Menschsein an sich sowie grundlegende gesellschaftliche Fragen wie "Wie definieren wir Familie?" oder "Wann ist ein Mensch als tot zu erachten?" darstellt.
Globalisierung und muslimische Migration nach Europa haben zu Modernisierungsdiskursen im Islam geführt und den Begriff "Euro-Islam" hervorgebracht. Lässt sich in diesem Zusammenhang das Entstehen von euro-islamischen Deutungsansätzen in bioethischen Belangen beobachten?
Eich: Nein, der islamische Beitrag zu europäischen und nordamerikanischen Bioethik-Debatten ist bislang in hohem Maße von den Debatten und Beschlüssen im Nahen Osten geprägt. Am ehesten entwickelt sich in Nordamerika ein autochthoner Bioethik-Diskurs der Muslime.
Islamische Ethik und säkulare Gesellschaft gelten ja generell als schwer miteinander vereinbar. Sehen Sie im bioethischen Diskurs dennoch Chancen für einen interreligiösen und interkulturellen Dialog?
Eich: Ich glaube nicht, dass bioethische Fragen gut für einen interreligiösen Dialog geeignet sind. Diesen Fragen ist ein großer Druck inhärent, möglichst zügig zu integeren, praktikablen Lösungen in der medizinischen Praxis zu finden. Interreligiöser Dialog braucht einfach mehr Zeit, zumal er in vielen Ländern nur ungenügend über eine institutionalisierte Infrastruktur verfügt. Einen interkulturellen Dialog halte ich in bioethischen Fragen hingegen für unabdingbar.
Interview: Sarah Zada
© Qantara.de 2009
Thomas Eich lehrt Islamwissenschaften an der Universität Tübingen. Als Feodor Lynen- Forschungsstipendiat war er von September 2008 bis Februar 2009 an der Georgetown University in Washington DC, USA.
Literaturtipp: Moderne Medizin und Islamische Ethik. Biowissenschaften in der muslimischen Rechtstradition. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Thomas Eich, Herder-Verlag 2008
Qantara.de
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