Der Nationalstaat und seine Einwanderer
Die Sprache der Integrationsdebatten ist jedenfalls bezeichnend. Sie ist voller Fallstricke, wenn es um Identitätsfragen geht, um Heimat oder Loyalität. So wurde in den Debatten um die doppelte Staatsbürgerschaft immer wieder der Begriff der Loyalität bemüht, der in der wilhelminischen Epoche von konservativen Historikern und Politikern herangezogen wurde, um zu belegen, dass deutsche und jüdische Identität unvereinbar seien: Aus der Sicht des Historikers Heinrich von Treitschke war die Einheit von Staat und Volk in Gefahr.
Wer sich heute gegen Doppelidentitäten sperrt, gerät in die Tradition eines nebulösen Staatsverständnisses, der den Weg der Deutschen in die Demokratie lange blockiert hat. Die Oberhoheit über das Angstpotenzial haben diese Begriffe ohnehin: Angst vor Verlust der Identität, vor Fremden, vor Unbekannten.
Oder die Arbeit der islamischen Verbände in Deutschland: Sie sollte durchaus kritisch betrachtet werden. Wenn Necla Kelek in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitzung jedoch von "alter Basar-Mentalität" schreibt, mit der die Verbände glauben, "in göttlichem Auftrag mit der Regierung über die Zusammensetzung und Tagesordnung der Konferenz schachern" zu können, werden Assoziationen geweckt, die in einer langen Tradition der Diffamierung und Stigmatisierung stehen. Würde eine Zeitung ähnliche Formulierungen erlauben, wenn es um eine andere Religionsgruppe geht?
Die Einwanderungsdebatte ist emotional aufgeladen. Dennoch haben Empfindungen keinen Platz in den Gesprächsrunden. So kann man sich nur voneinander entfremden. Wenn Deutsche sich der Zugewanderten annehmen wollen, müssen sie sich selbst mehr ins Gespräch bringen, offen und selbstkritisch.
Die Geschichte der anderen im Blick
Das ist nicht immer eine fröhliche Veranstaltung, sondern auch ein schmerzhafter Prozess. Umgekehrt kann derjenige, der dauerhaft in Deutschland leben und sich in die Gesellschaft eingliedern möchte, nicht umhin, die Geschichte der anderen in den Blick zu nehmen. Dabei kommt es auch auf Empathie an. Es geht weniger um herkömmlichen Geschichtsunterricht, als um einen die Grenzen der eigenen Kultur überschreitenden Erfahrungsaustausch.
In der Geschichtsschreibung ging es oft um die Konstruktion von nationaler Identität. Moderne Geschichtswissenschaft hat sich davon zwar entfernt, aber sie riskiert nach wie vor zu wenig die vergleichende Wahrnehmung. Wir brauchen eine vergleichende Geschichtswissenschaft – ähnlich der vergleichenden Literaturwissenschaft.
Dabei können auch literarische Texte mit ihren biografischen Konnotationen eine eher emotionsleere Wahrnehmung der Vergangenheit ergänzen und neue Perspektiven eröffnen. Gerade die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die Völkermorde, Vertreibungen und nationalistischen Exzesse teilen die Europäer miteinander, die Deutschen teilen sie auch mit den Türken.
Einsamkeit mit der eigenen Geschichte
Es gibt auch Momente der Unteilbarkeit, der absoluten Einsamkeit mit der eigenen Geschichte. Hier stößt Integration an ihre Grenzen. Es sind Grenzen, die nicht zwischen Nationen, Kulturen, Religionen verlaufen, sondern die mit der Herkunft eines Menschen, seiner Biografie, seinem Stammbaum festgelegt werden.
Ihr Verlauf kann sich ändern: Großvater und Großmutter bleiben Großvater und Großmutter, doch wenn die Enkel auswandern, entsteht ein neuer Blick auf die früheren Generationen. Erfahrungen, die sich in Familiengeschichten ablagern, werden mehrsprachig und vieldeutig. Das verunsichert alle, die Individuen und Einzelbiografien am liebsten zu kollektiven Identitäten bündeln möchten.
Deutsche und Türken verbindet etwas. Beide stammen aus großen Mischkulturen, die im 20. Jahrhundert gewaltsam zerschlagen wurden. Ein bitterer Erfahrungshintergrund, den man gemeinsam erörtern kann. So lassen sich Unterschiede und Ähnlichkeiten genauer benennen, jenseits der Sphäre vager Urteile und Vorurteile aufheben.
An den Tischen der deutschen Integrationspolitik sollte es also nicht nur um Türken, den Islam und all das gehen, was der Durchschnittsdeutsche als fremd empfindet, sondern auch um das, was er als das Eigene wahrnimmt. Um die eigene Geschichte, den eigenen Identitätswandel.
In diesem Wandel steckt nicht nur die Sehnsucht nach Anerkennung, sondern auch die Verunsicherung hinsichtlich einer Zukunft, in der nichts mehr so sein wird wie heute und hoffentlich manches anders als gestern.
Zafer Senocak
© Qantara.de 2010
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Der Schriftsteller Zafer Senocak lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch" sowie der Gedichtband "Übergang" im Babel Verlag.
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