Aus dem Krankenhaus auf die Barrikaden

The portrait of a nurse in a protective suit is projected onto the Azadi monument in Tehran.
Während der Pandemie wurden Pflegekräfte für ihren Einsatz gefeiert, wie hier in Teheran. Heute begehren sie auf. Foto: Picture Alliance/Nur Photo | Morteza Nikoubazl

Im Iran streiken die Pflegekräfte, um gegen miserable Lebensstandards und belastende Arbeitsbedingungen zu protestieren. Die Verzweiflung treibt viele ins Ausland – manche sogar in den Suizid.

Von Omid Rezaee

Im Iran versammeln sich seit Wochen immer wieder hunderte Pflegekräfte, wie aus Bildern und Videos aus mehreren Städten hervorgeht, die in sozialen Netzwerken kursieren. Mit Slogans wie „Wo ist unser Geld? In euren Taschen!“ und „Als Pflegekräfte sind wir das Symbol der Geduld, doch unsere Geduld ist erschöpft“, fordern sie nicht nur bessere Gehälter, sondern auch die Einhaltung bestehender Überstundenregelungen und Arbeitsschutzgesetze.  

Am 31. August erklärte Irans Präsident Massud Peseschkian, er arbeite an der Lösung der Probleme. Der neue iranische Gesundheitsminister, Mohammadreza Zafarghandi, hatte wenige Tage zuvor bekanntgegeben, dass der Staat den staatlich angestellten Pflegekräften insgesamt 7,5 Billionen Toman (etwa 170 Millionen US-Dollar) schuldet. Peseschkian sagte, er habe die Erlaubnis erteilt, Mittel aus dem Nationalen Entwicklungsfonds zu entnehmen, um ausstehende Gehälter zu begleichen.  

Unklar ist allerdings, wie viel von diesem Geld tatsächlich den Pflegekräften zugutekommt. Der neu entstandene „Koordinationsrat der Pflegekräfte“ erklärte am 7. September über seinen Telegram-Kanal, die Regierung habe wiederholt die klar artikulierten Forderungen der Pflegekräfte ignoriert. Die Verantwortlichen hätten auf die Streiks lediglich mit geringfügigen und verspäteten Gehaltsnachzahlungen reagiert, die zudem stark besteuert würden und in einigen Regionen nur minimal ausgefallen seien. 

Die Arbeitslast zwingt Pflegekräfte in die Knie

Die Streiks hatten am 3. August in einem Krankenhaus in Schiras begonnen und sich schnell auf andere Städte ausgebreitet. Mittlerweile beteiligen sich über 50 Krankenhäuser in mehr als 20 Städten an den Arbeitsniederlegungen. In der Hauptstadt Teheran versammelten sich am 21. August Pflegekräfte vor dem Gesundheitsministerium, was ein großes Risiko darstellt. Versammlungen gelten im Iran als die gefährlichste Art des Protests, da sie meist sofort zerschlagen werden.  

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Die Pflegekräfte fordern nicht nur eine angemessene Bezahlung, sondern protestieren auch gegen die enorme Arbeitsbelastung. So sind Überstunden Pflicht, die Löhne lächerlich niedrig und das Arbeitsklima ist oft feindlich. Drohungen und Beleidigungen sind an der Tagesordnung. In den vergangenen Jahren gab es wiederholt Berichte über Angriffe durch Patient*innen und deren Begleiter*innen. Deshalb fordern die Pflegekräfte ein Schutzkonzept gegen solche Angriffe.  

Ein deutliches Anzeichen für die wachsende Verzweiflung unter den Pflegekräften ist eine Reihe von Selbstmorden. Seit April dieses Jahres haben sich mehrere Pflegekräfte das Leben genommen – zermürbt durch die ständigen Überstunden, die finanziellen Nöte und den Mangel an Unterstützung, wie der Vorsitzende der Pflegegewerkschaft in einem Interview betonte. 

Farshad Esmaili, Arbeitsrechtler in Teheran, erklärte gegenüber Qantara: „Die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte sind durch niedrige Löhne und mangelnde Arbeitsplatzsicherheit gekennzeichnet. Früher waren alle Pflegekräfte Festangestellte des Staates mit stabilen Arbeitsverhältnissen, aber heute, nach der weitreichenden Privatisierung des Gesundheitswesens, haben viele diese Sicherheit nicht mehr.”  

Die Folgen der Privatisierung

Um die Wurzeln der Krise zu verstehen, muss man in die 1990er Jahre zurückgehen, als die damalige Regierung einen Plan zur „Selbstverwaltung der staatlichen Krankenhäuser“ einführte. Ziel war es, die staatlichen Gesundheitseinrichtungen finanziell von der Regierung unabhängiger zu machen. Gleichzeitig legte der Plan den Grundstein für die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens im Iran. Krankenhäuser wurden zunehmend gezwungen, ihre Ausgaben zu senken und ihre Einnahmen gleichzeitig zu steigern.  

Eine der Hauptstrategien bestand darin, die Arbeit in den Krankenhäusern an private Zeitarbeitsfirmen auszulagern. Heute werden 40 Prozent der Pflegekräfte von solchen Firmen angestellt, was ihre Rechte einschränkt. So ist aktuell einer der zentralen Streitpunkte die sogenannte 89-Tage-Vertragsregelung. Diese ermöglicht es Arbeitgebern, Pflegekräfte kurzzeitig einzustellen, ohne ihnen die Rechte und Vorteile eines regulären Arbeitsverhältnisses zu gewähren. Da auch viele arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen nicht gelten, spricht Esmaili von einer „ausbeuterischen Praxis“. Die Folge ist massive Unsicherheit unter den Pflegekräften.  

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„Die meisten von uns haben befristete Verträge. Wir sind weniger wert als die Ärzte, gleichzeitig würde ohne uns das gesamte System zusammenbrechen”, sagt eine Krankenschwester aus Teheran, die anonym bleiben möchte, im Gespräch über Telegram. „Die Belastungen, die uns auferlegt werden, sind untragbar.“ In einem Monat habe sie 140 Überstunden machen müssen und habe nur einen Bruchteil dessen erhalten, was ihr für die Überstunden eigentlich gesetzlich zusteht. 

Auch der Präsident der iranischen Ärztekammer, Mohammad Raiszadeh, äußerte sich kritisch zu der Situation. In einem Interview am 7. September betonte er, die Einkommensverhältnisse von festangestellten Pflegekräften und jenen, die von Zeitarbeitsfirmen vermittelt werden, müssten angeglichen werden.  

Viele wandern aus

Laut Gesundheitsministerium sind im Iran rund 230.000 Personen als Pflegekräfte tätig. Einem Bericht der staatlichen Iranian Nursing Organisation zufolge kommen auf 1.000 Einwohner*innen lediglich 1,5 Pflegekräfte, was der Hälfte des weltweiten Durchschnitts entspricht. Diese Umstände verschärfen den bereits gravierenden Personalmangel in den Krankenhäusern, in denen nach offiziellen Angaben bereits jetzt 100.000 Pflegekräfte fehlen.  

Jährlich verlassen etwa 3.000 Pflegekräfte das Land, wobei laut der Iranian Nursing Organisation Deutschland und Dänemark die beliebtesten Ziele sind. Die meisten gehen in die Golfstaaten oder nach Europa, auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen und einem sicheren Leben. „Es ist so schlimm, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen nicht einmal mehr ein Zuhause haben. Sie schlafen im Krankenhaus, weil sie sich die Mieten nicht leisten können“, berichtete Mohammad Sharifi Moghaddam, Vorsitzender der staatlich kontrollierten Pflegegewerkschaft, in einem Interview mit der Zeitung Shargh am 14. August. Arbeitsrechtler Esmaili erklärt die Krise mit Perspektivlosigkeit: „Die Streikenden haben das Gefühl, sie könnten nichts mehr verlieren.“ 

Der Pflegeberuf im Iran ist stark geschlechtsspezifisch geprägt. Über 75 Prozent der Pflegekräfte sind Frauen. Viele von ihnen stehen an vorderster Front der aktuellen Streiks. Als feministisch möchte Arbeitsrechtler Esmaili die Proteste allerdings nicht bezeichnen: „Die Frau-Leben-Freiheit-Bewegung hat sicherlich Spuren hinterlassen”, sagt er, „aber diese Streiks nennen sich nicht explizit feministisch, auch wenn es ihre Forderungen im Kern zweifellos sind.“ 

Pardis Gharehbeglou, eine medizinische Anthropologin, die während der Covid-19-Pandemie in iranischen Krankenhäusern arbeitete, betont: „Pflege im Iran ist nicht nur ein unterbezahlter Beruf, sondern auch ein zutiefst geschlechtsspezifischer, wie in aller Welt. Die systemische Diskriminierung der Frau zeigt sich hier also nicht zwischen Mann und Frau im selben Beruf, sondern darin, dass der Pflegeberuf größtenteils von Frauen gewählt wird.”  

Die politische Dimension der Streiks

Mit dem zunehmenden Druck, der durch die Streiks entsteht, nimmt auch die staatliche Repression zu. In den letzten Wochen wurden mehrere Pflegekräfte in verschiedenen Städten verhaftet. Wie die Pflegegewerkschaft bestätigte, sind Drohungen der Behörden, Streikende in entlegene Provinzen zu verbannen oder ihnen Sanktionen wie Gehaltskürzung aufzubrummen, weit verbreitet.  

Obwohl die Pflegekräfte sich vor allem auf die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen konzentrieren, ist es unmöglich, die politische Dimension der Streiks zu ignorieren. Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme, verursacht durch staatliches Versagen und weit verbreitete Korruption, prägen viele der aktuellen Arbeitskämpfe im Iran.  

So sind die aktuellen Pflegestreiks nicht die ersten des medizinischen Personals. 2022 wurden Pflegekräfte und Ärzt*innen, die während der Frau-Leben-Freiheit-Proteste verletzten Demonstrant*innen zu Hilfe eilten, oft selbst von Regimekräften attackiert. Auch bei den Protesten gegen die Verdreifachung von Treibstoffpreisen 2019 gab es Berichte über Streiks von Pflegekräften in Krankenhäusern als Zeichen der Solidarität. 

Aktuell fehlt den Protesten eine klare Führung oder Struktur, auch wenn es erste Anzeichen gibt, dass sich die Pflegekräfte stärker organisieren, etwa in sozialen Medien oder in Initiativen wie dem eingangs erwähnten „Koordinationsrat der Pflegekräfte“. Pardis Gharehbeglou hat mit Blick auf die aktuelle Bewegung dennoch Hoffnung: „Die Pflegekräfte haben gezeigt, dass sie nicht bereit sind, aufzugeben. Ihre Proteste wachsen, und sie haben infolge der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung ein Bewusstsein für ihre Macht entwickelt.“ 

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