Spuren des Krieges
Najàd (Name von der Redaktion geändert) trifft sich jeden Tag bei PARC mit den anderen Frauen. Ohne Scheu spricht sie über das, was ihr in ihrer Ehe widerfahren ist. Sie weiß, in diesem Raum ist sie geschützt: "Mein Mann hat mich mit einem Elektrokabel geschlagen. Ich habe es zuerst hingenommen und war geduldig. Dann hat er mich eines Nachts mit Elektroschocks misshandelt. Da bin ich geflüchtet."
Najàd ist seit zwei Jahren geschieden. In 23 Ehejahren hat sie zehn Kinder geboren. Ihr ältester Sohn ist 22, ihre jüngste Tochter drei. Ihr Mann heiratete noch vor der Trennung eine seiner Verwandten und warf seine erste Frau Najàd aus der gemeinsamen Wohnung. Seitdem ist sie obdachlos.
Weil sie keine eigene Wohnung hat, darf Najàd auch ihre vier kleinsten Kinder, die, die noch jünger als neun Jahre alt sind, nicht zu sich nehmen. Und die älteren Kinder darf sie auch nicht mehr sehen. So sieht es die Scharia vor, nach der im Gaza-Streifen alle Familienangelegenheiten geregelt werden.
Lässt sich ein Paar scheiden, geht das Sorgerecht für die Kinder mit Vollendung des neunten Lebensjahres auf den Vater über. Früher lag die Altersgrenze bei 15 Jahren. Seit der Machtübernahme der Hamas wurde sie auf neun Jahre zurückgesetzt, erklärt Islah Hassania.
Als Anwältin verteidigt Hassania Frauen beim Religionsgericht. Hassania arbeitet eng mit Zainab El Ghunaimi zusammen. El Ghunaimi ist auch Anwältin. Sie leitet ein Zentrum für die Rechtsberatung von Frauen, das unter anderem von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem "Global Fund for Women" unterstützt wird.
Religiös legitimierte Unterdrückung der Frauen
Jede Frau, die in ihrer Ehe Gewalt ausgesetzt ist, kann die Scheidung beantragen, sagt El Ghunaimi. Aber in der Praxis zögen die Richter die Verfahren oft in die Länge. Die Prozeduren seien bürokratisch und kompliziert, sagt sie.
Manche Frauen warten 15 Jahre auf ihre Scheidung: "Damit ein Gericht die Gewalt anerkennt, die eine Frau erlitten hat, muss sie schwer geschlagen worden sein. Sie muss das beweisen mit ärztlichen Attesten und muss bei der Polizei Anzeige erstatten. Manchmal reicht auch das noch nicht aus."
Während des Scheidungsverfahrens gibt es für die Frauen im Gaza-Streifen keinen sicheren Zufluchtsort. Die Gründung eines Frauenhauses ist bisher immer gescheitert.
Die Gewalt der Ehemänner gegenüber ihren Frauen ist gesellschaftlich legitimiert, beklagt Reem Al Nairab. Für das Frauenzentrum "Woman's Affairs Center" (WAC) koordiniert sie ein Programm in Gaza-Stadt, das die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen mit zinslosen Kleinkrediten fördert. Oft hat Al Nairab Männer sagen hören, eine Frau sei wie ein Teppich. Je mehr er geschlagen werde, desto sauberer werde er.
"Das kriegt man schwer raus aus den Köpfen", meint Reem Al Nairab. "Viele Frauen sagen, mein Mann hat das Recht, mich zu schlagen. Ich bin selbst schuld, wenn er mich schlägt. Und sie berufen sich dabei auf den Koran."
Im 34. Vers der vierten Sure wird den Männern die Vollmacht und Verantwortung gegenüber ihren Frauen zugesprochen. Die Frauen haben demütig und ergeben zu sein. Sind sie es nicht, sollen sie ermahnt, der Schlafgemächer verwiesen und schließlich auch geschlagen werden.
Gegen diese religiös legitimierte Unterdrückung der Frau in der Ehe arbeiten Reem Al Nairab und ihre Kolleginnen vom Frauenzentrum mit Workshops an. Oftmals sprechen die Frauen dort zum ersten Mal über die Gewalttätigkeit ihrer Ehemänner, sie hören von der Universalität der Menschenrechte und der Gleichberechtigung der Geschlechter.
In Video-Kursen werden sie angeleitet, ihre Gewalterfahrungen filmisch zu dokumentieren. Im letzten Schritt geht es aber um die Gründung eigenständiger Existenzen. Die ökonomische Unabhängigkeit aber ist in dem vom Krieg zerstörten und der israelischen Blockade ausgetrockneten Gaza-Streifen meist kaum mehr als ein schöner Traum.
Doch Najàd hat inzwischen wieder den Mut gefunden, diesen Traum zu träumen und in die Zukunft zu schauen: "Ich will eine Arbeit, eine kleine Wohnung und ich will meine Kinder wieder sehen."
Ruth Kinet
© Qantara.de 2010
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