Märchen und soziale Utopie
Schon in einer der ersten Szenen des Films erzählt die Mutter ihren Kindern dieses Märchen beim Zubettgehen. Nach ihrem Tod hören Gulîstan und ihr Bruder es sich auf einer Musikkassette immer wieder an. Im Film wird das Märchen zur Parabel für gewaltlosen Widerstand.
Es hält Gulîstan davon ab, den Mörder ihrer Eltern zu erschießen. Stattdessen prangert sie ihn öffentlich an. Dass es ihr damit gelingt, am Ende den Täter zu stellen, ist der einzige Hoffnungsschimmer des Films und zugleich sein stärkster Moment.
Hier entfernt sich die Handlung am weitesten von der Realität. Das Zur-Schau-Stellen der Täter in der Hochphase des Kurdenkonflikts dürfte wohl kaum eine solche Wirkung gehabt haben. So zeigt der Film ein Stück soziale Utopie. Er steht für die Hoffnung, dass am Ende doch die Gerechtigkeit siegt und die Gesellschaft letztendlich das Böse erkennt und überwindet.
Mehrfache Auszeichnung
Der Film hat bereits zahlreiche Preise auf internationalen Filmfestivals erhalten. Auf dem größten seiner Art im türkischen Antalya wurde "Min Dît" mit den Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, auf dem jüngsten Filmfestival in Istanbul sprach man ihm gleich drei Trophäen zu, unter anderem für die beste Regie und die beste Hauptdarstellerin.
Dass ein Film, in dem überwiegend Kurdisch gesprochen wird, eine solch positive Resonanz in der Türkei erfährt, ist neu und steht für die allmähliche Öffnung des Landes gegenüber der kurdischen Kultur und Sprache.
Es ist gerade einmal ein knappes Jahrzehnt her, dass mit "Reise zur Sonne" von Yesim Ustaoglu erstmals in einem türkischen Film Kurdisch gesprochen werden dufte. 2002 markierte das Drama "Hejar" (Kurdisch für "Unterdrückung") einen weiteren Schritt.
Der Film von Handan Ipekci war der offizielle Beitrag der Türkei für den Oscar und erzählt von der Beziehung eines alten türkischen Mannes, der ein verwaistes kurdisches Mädchen bei sich aufnimmt. Das türkische Kultusministerium empfand die Darstellung des Kurdenkonflikts als zu problematisch. Es verbot den Film nach fünf Wochen und drohte der Regisseurin mit mehrjähriger Haft.
Mittlerweile gibt es in der Türkei einen kurdischsprachigen Kanal im staatlichen Fernsehen, und Ministerpräsident Tayyip Erdogan wünschte zum Jahreswechsel 2008/2009 auf Kurdisch ein frohes Neues Jahr. Der angestoßene Prozess weckt Hoffnungen auf ein Ende der Gewalt und eine Zukunft ohne Diskriminierung für die Kurden in der Türkei.
Ende ohne Illusionen
Doch im Film sehen die Kinder von Diyarbakir einer illusionslosen Zukunft entgegen. Gulîstan und ihr Bruder Firat schließen sich einer Gruppe Straßenjungs an und fahren mit ihnen nach Istanbul – in der Hoffnung auf einen Neuanfang.
Wie Tausende anderer Kinder werden sie sich dort mit Kleinkriminalität und Betteleien über Wasser halten – allein die gegenseitige Gemeinschaft gibt ihnen noch einen gewissen Halt. Die türkische Gesellschaft hat sie längst im Stich gelassen.
Die letzte Sequenz des Films zeigt Straßenkinder in Istanbul, die mit Maschinenpistolen aus Plastik posieren, dazu ertönt ein Song des kurdischen Sängers Serhado, der dazu aufruft, die Augen vor der Wirklichkeit nicht zu verschließen – ein trauriges Abbild einer verlorenen Zukunft.
Claudia Hennen
© Qantara.de 2010
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
"Min Dît – Die Kinder von Diyarbakir", Regie und Drehbuch: Miraz Bezar, 102 Minuten, Kinostart in Deutschland: 22. April 2010
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