Jede Whatsapp könnte die letzte sein

Eine Mutter sitzt mit ihre Kinder in einem Flüchtlingslager in Gaza
Binnenvertrieben, wie fast alle in Gaza: eine palästinensische Familie in Nuseirat. Foto: picture alliance / Anadolu | H. Jedi

Ein Jahr nach dem Hamas-Angriff gelten neun von zehn Menschen in Gaza als binnenvertrieben. Viele Paare und ganze Familien hat der auf den 7. Oktober folgende Krieg auseinandergerissen. Doaa Shaheen berichtet von vor Ort.

Von Doaa Shaheen

Am Morgen des 7. Oktober machte die 45-jährige Iman Abu Hasira Frühstück für ihre Töchter. Wie immer verbrachten sie den Morgen gemeinsam als Familie. Plötzlich hörte sie Raketen am Himmel über Gaza. Iman bekam Angst und verbot ihren Kindern an diesem Tag, in die Schule zu gehen.  

Am Anfang dachte Iman, das Heulen der Raketen seien israelische Bomben, wie die Menschen in Gaza sie kennen, ein Sturm im Wasserglas, der schnell vorüber geht. Doch sie erschrak, als eine Nachbarin ihr keuchend und verängstigt zurief, palästinensische Gruppierungen, allen voran die Hamas, hätten israelische Orte im sogenannten „Gaza Envelope” angegriffen. Iman glaubte es nicht und griff zu ihrem Handy: Videos und Fotos des Angriffs verbreiteten sich bereits im Netz. 

In diesem Moment wusste Iman bereits, dass Gaza ein Krieg bevorstand. Wenig später befahl das israelische Militär den Bewohner*innen im Norden Gazas, ihre Häuser zu verlassen und in den Süden zu fliehen. Iman floh mit ihren drei Töchtern und einem Sohn. Ihr Mann weigerte sich mitzukommen. 

Eine Palästinenserin im Hijab sitzt auf dem Boden
Hatte vor dem Krieg Zukunftspläne: Iman Abu Hasira in ihrer Notunterkunft. Foto: D. Shaheen

Im Laufe des Krieges kappte das israelische Militär die Verbindung zwischen Nord- und Südgaza, indem es Militärposten entlang des Netzarim-Korridors errichtete, der in der Mitte des Gazastreifens von Ost nach West führt. So verhindert die Armee bis heute, dass Palästinenser*innen in den Norden zurückkehren. 

Während Iman in einer zur Notunterkunft umfunktionierten Schule in Al-Bureidsch in Südgaza sitzt, erzählt sie: „Mein Mann und ich hatten viele Pläne: die Ausbildung unserer Kinder, wir wollten ein neues Haus kaufen, vielleicht mal ins Ausland reisen. Von einem Tag auf den anderen haben wir alles verloren. Der Kriegt hat unser Haus und unser Leben zerstört. Nichts ist, wie es vorher war.“  

Ohne ihren Mann trägt Iman die gesamte Verantwortung für ihre Kinder. „Seit Monaten muss ich allein die Strapazen ertragen: in einer langen Schlange anstehen, um Wasser zu holen, Holz hacken, damit wir Feuer machen können, und meine Töchter beschützen.“  

Hin und wieder kann Iman mit ihrem Mann sprechen, sich versichern, dass es ihm gut geht. Der Kriegt hat die beiden getrennt. Ihnen bleibt nichts außer ein paar Gespräche und Nachrichten voller Nostalgie, um einander Trost zu spenden. „Wir haben diesen Krieg nicht gewollt. Wie alle anderen Menschen wollen wir einfach nur Ruhe und Sicherheit“, erklärt Iman.

Mit vier Kindern in einem Zelt

Wie Iman ist auch die 42-jährige Laila al-Mabhuh ohne ihren Mann geflohen. Auch er hatte sich geweigert, den Norden zu verlassen. Anders als Iman aber dachte Laila, sie würde nach ein paar Tagen, vielleicht nach einer Woche, wieder in ihr Haus zurückkehren. 

Mittlerweile ist ein Jahr vergangen und wann sie zurück kann, weiß Laila immer noch nicht. „Seit einem Jahr leben wir in Krieg und Trauer. Das ist der blutigste Krieg, den wir je in Gaza erlebt haben. Nichts in Gaza bleibt verschont.“ Laila lebt mit ihren vier Kindern in einer Art Zelt, das sie selbst aus Wellblech gebaut hat. Davor war sie in Schulen untergebracht, musste aber immer wieder von Schule zu Schule fliehen.  

Die Vereinten Nationen schätzen die Bevölkerung des Gazastreifens auf 2,1 Millionen. Ein Jahr nach Beginn des Krieges liegt die Zahl der Binnenflüchtlinge aktuell bei 1,9 Millionen. Das sind neun von zehn Menschen in Gaza. Viele von ihnen mussten wegen der Evakuierungsbefehle des israelischen Militärs und der weitreichenden Zerstörung des Streifens mehrfach fliehen.  

So wie die Familien der israelischen Geiseln auf ein Abkommen zur Freilassung warten, so träumen auch die Palästinenser*innen in Gaza von einem Ende des Krieges, das den Binnenflüchtlingen ermöglicht, in ihre Häuser und zu ihren Angehörigen im Norden zurückzukehren. Die Rückkehr der Binnenflüchtlinge ist einer der Punkte, an denen die Verhandlungen über einen Waffenstillstand bislang gescheitert sind.  

Eine Palästinenserin im Hijab sitzt auf dem Sofa in Gaza
Laila al-Mabhuh dachte anfangs, sie würde für wenige Tage ihr Zuhause verlassen. Foto: D. Shaheen

„Die Szenen der Nakba verfolgen mich“ 

Auch Rami Junis ist von seiner Liebsten getrennt. Zwei Tage lang hatte der 27-Jährige nichts von seiner Verlobten Maisa Ahmad, 23, gehört. Dann bekommt er die Nachricht: „Hallo, mir geht es gut… ich habe dich vermisst.“ Die kurze Nachricht lässt ihn aufatmen.  

Rami und seine Verlobte waren inmitten der Vorbereitungen für ihre für Dezember geplante Hochzeit, als der Krieg kam und ihre Pläne zunichte machte. Vor sieben Monaten floh Rami mit seiner Familie vor den Bomben nach Deir al-Balah im Süden Gazas. Maisa blieb mit ihrer Familie im Norden. Handy-Nachrichten sind das einzige, was die beiden noch verbindet.  

„Der 7. Oktober hat Israel total aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber wir haben einen teuren Preis bezahlt“, sagt Rami zu Qantara. „Ich hätte nicht gedacht, dass der Krieg ein Jahr dauern würde. Wir sind geflohen, weil wir im Norden die buchstäbliche Hölle erlebt haben. Aus Angst vor den Bomben haben wir die meiste Zeit unter der Treppe verbracht.“  

Palästinenser starrt auf sein Telefon und wartet auf eine Nachricht
Seit Monaten kommuniziert Rami Junis mit seiner Verlobten ausschließlich per Telefon. Foto: D. Shaheen

Am anderen Ende des Gazastreifens wartet Maisa darauf, dass ihr Verlobter zurückkehrt. Zu Qantara sagt sie am Telefon: „Ich weiß immer noch nicht, wann Rami zurückkommen wird. Aber ich kann diesen Ort, an dem ich aufgewachsen bin, auch nicht verlassen, denn die Szenen der Nakba von 1948, als meine Vorfahren aus ihren Häusern vertrieben wurden, verfolgen mich wie ein Albtraum.“  

Jeden Moment fürchten Rami und Maisa, dass eine ihrer Nachrichten die letzte sein wird. Denn in Gaza gibt es keine Sicherheit mehr. „Die Zustände hier sind katastrophal“, sagt Maisa. „Überall liegt der Geruch von Blut und Sprengstoff in der Luft. Aber Hauptsache, er kommt heil zu mir zurück.“ 

Aus dem Arabischen von Alicia Kleer.  

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