Der Paragraph 301 und die Ehre der türkischen Nation



Etliche Köpfe rollten und eine längst überfällige Nationalismusdebatte wurde entfachte, bei der sich Konservative eingestehen mussten, dass die Verschärfung des türkischen Nationalismus ein Ausmaß angenommen habe, das man als schädlich bezeichnen muss.
Es schien, dass der Mord an Dink zur größten Herausforderung für die türkische Gesellschaft geworden war. Denn er verdeutlichte, dass der Nationalismus nicht nur ein Ergebnis der türkischen Bildungspolitik ist, sondern vielmehr durch den Staat selber immer wieder am Leben erhalten wird.
Verwischte Spuren
Obwohl so viele hochrangige Kreise in diesen Mord verwickelt sind; laut dem Dink-Jahresbericht Spuren verwischt und gefälscht wurden; Unterlagen und Befragungen nicht zugänglich sind und Beweisstücke verschwunden sind: In der Aufklärung gibt es erste Ergebnisse.
So bestätigte Anfang des Monats die türkische Gerichtsmedizin, dass der Attentäter zur Tatzeit nicht wie angegeben 17, sondern 19 Jahre alt war. "Sollte das Strafgericht das Ergebnis akzeptieren, muss der Attentäter eine lebenslange Strafe bekommen", so Fetiye Cetin, die Anwältin der Familie Dink.
Vor zwei Wochen nahm auch endlich die fünfköpfige Untersuchungsdelegation zum Mordfall ihre Arbeit auf. Eine Delegation, die auf Wunsch der Witwe Rakel Dink eingesetzt wurde, Teil der Menschrechtskommission des Parlamentes ist und einen unabhängigen Bericht vorlegen will.
Die Familie Dink habe der Delegation bei der Aufklärung einen wichtigen Weg nennen können, zitieren türkische Medienberichte die ersten Bemühungen der Delegation.
Liest man aber den Jahresprozessbericht der Dink-Stiftung, dann brauchen selbst Juristen eine Schautafel, um die Verstrickungen in dem Mordfall überhaupt begreifen zu können. Der Bericht beklagt, dass alle gesammelten Informationen, Videoaufnahmen, Beweisstücke und Unterlagen, die es vor und nach der Ermordung am Istanbuler Tatort und in der Stadt Trabzon gab, in Ankara beim Geheimdienst versickert seien.
Die Ehre der Nation: strafrechtlich geschützt
"Der Mord, für den Pläne schon seit 2004 geschmiedet wurden, hätte längst geklärt werden können", heißt es in dem Bericht. Nachdrücklich fragt die Anwältin Cetin: "Wen schützen die Sicherheitskräfte und Geheimdienste eigentlich? Den Bürger vor etwaigen Gefahren oder schützt nicht vielmehr § 301 den autoritären Staat vor den Forderungen seiner Bürger?"
Der neue Entwurf sieht zwar leichte Verbesserungen vor. So soll das Wort "Türkentum" durch "Türkisches Volk" ersetzt werden und die Strafe auf zwei Jahre herabgesetzt werden. Für Christian Rumpf, Experte für Türkisches Recht, bedeutet es, dass der undefinierbare Begriff, der das Einfallstor für gefühlsbetonte Wertungen türkischer Strafrichter war, etwas konkreter wird und dass es schwieriger werde, die Behauptung des Völkermordes nach Artikel 301 zu bestrafen.
Fest steht, mit der Aufklärung des Mordes steht man erst am Anfang. Und wie wichtig dabei der Türkei ihr Stolz ist, bei der selbst die Ehre der Nation strafrechtlich geschützt werden muss, belegt der § 301, der den Gefühlen freien Lauf lässt.
Semiran Kaya
© Qantara.de 2008
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