Ein Analphabet als literarisches Naturtalent


Ahmed und seine Mutter werden auf einer Reise in das Dorf ihres Vaters verhaftet und kommen ins Gefängnis, weil sie nicht beweisen können, dass sie dort tatsächlich Verwandte haben. Araber durften damals in ihrem eigenen Land nur reisen, wenn sie Papiere vorweisen konnten, die den Grund ihrer Reise beglaubigten oder den Nachweis über verwandtschaftliche Beziehung am Zielort enthielten.
Auch wenn Ahmeds Leben für einen jungen Araber seiner Generation ein recht typisches sein mochte, reichen die Vorbehalte der Araber gegenüber dem Westen und ihren ehemaligen Kolonialherren weiter.
Obwohl die "Nazarener", wie die verarmten Araber die christlichen Kolonialherren nannten, derart entrückt vom Alltag des gemeinen Volkes lebten, dass sie kaum jemals mit Ahmed oder seinen Freunden in direkten Kontakt kamen, so sind in Charhadis Erzählung doch eine konstante Präsenz, und sie haben auch die oberste rechtliche Entscheidungsgewalt inne.
Unmittelbarkeit der mündlichen Erzählung
Als Ahmed beim Verkauf von Haschisch geschnappt wird, wird er zu einer Gefängnisstrafe verdonnert. Die Geschichte erklärt auch, vor welchem Hintergrund die Verurteilung zustande kommt: Die Kolonialherren sind haben nämlich die Absicht die Marokkaner zum Rauchen von Tabak zu bringen, da dieser Markt von Europäern kontrolliert wird.
Zwar überlassen die Nazarener die Drecksarbeit ihren arabischen Untergebenen, doch letztlich sind sie es, die die Fäden ziehen und Menschen wie Ahmed zu einem Leben in Armut und im Teufelskreis der Kriminalität verurteilen.
Die Beschreibungen von Ahmeds Entbehrungen und Schwierigkeiten sind schon verstörend genug und doch ist es vor allem die Form der Erzählung, die ihr ihre Kraft verleiht:
So ist die Geschichte eben nicht aus der Sicht einer abstrakten dritten Person verfasst, vielmehr wird der Leser ganz direkt angesprochen. Die Identifikation Charhadis mit seiner Hauptperson verstärkt diesen Eindruck, und auch der Umstand, dass die Geschichte durchgehend im Präsens geschrieben ist, gibt ihr eine Unmittelbarkeit, die anderen Erzähltexten normalerweise fehlt.
Jede Begebenheit aus Ahmeds Leben wird direkt wiedergegeben, so dass wir sie im selben Moment erleben wie er selbst und die übliche Trennung zwischen den literarischen Charakteren und dem Leser aufgehoben ist.
Ein Leben voller Fallgruben ist nicht nur ein kraftvolles und erschütterndes Porträt des Lebens der Ärmsten der Armen im kolonialen Marokko, sondern auch ein wundervolles Beispiel dafür, dass es möglich ist, den Zauber und die Unmittelbarkeit mündlichen Erzählens auf die geschriebene Literatur zu übertragen.
Üblicherweise wird bei der Übertragung einer mündlichen Geschichte versucht, sie in einen Roman zu adaptieren. Dass dieser Weg hier nicht gewählt wurde, macht Ein Leben voller Fallgruben zu einem solch einzigartigen und besonderen Buch.
Richard Marcus
© Qantara.de 2009
Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol
Qantara.de
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