Verlorene Generation





Die Ereignisse der Siebziger Jahre sind in der Türkei bis heute ungeklärt geblieben. Sie wurden zum Vorwand für den nächsten Militärputsch, im Jahre 1980. Dieser Putsch ist der härteste, den die Türkei erlebt hat. Er krempelt das ganze Land um.
Die Türkei wird für die Globalisierung fit gemacht. Wichtig ist vor allem, daß Arbeitskraft billig bleibt. Die Türkei soll in den Weltmarkt integriert werden. Auslandskapital soll ins Land fließen. Die Spuren der autoritären Herrschaft der Militärs reichen bis heute. Eine undemokratische Verfassung, eine Stimmung, in der der Begriff des Politischen selbst
zum gefährlichen Unwort geworden ist. All das hat eine umfassende, anhaltende Demokratisierung der Türkei bis in die Gegenwart verhindert.
Der Putsch treibt viele türkische Intellektuelle und Studentenführer ins Ausland, ins Exil. Das Kulturleben der Türkei wurde zunehmend von ihnen geprägt. Viele Verlage wurden in den Siebziger Jahren von den Achtundsechzigern gegründet. Die Produktion beschränkte sich nicht mehr nur auf politische Literatur, Werke der Weltliteratur wurden übersetzt, freilich vor allem so genannte fortschrittliche Autoren aus aller Welt entdeckt. So zum Beispiel die lateinamerikanische Literatur; Autoren wie Fuentes und Marquez wurden populär.
Türkische Linke flüchtet nach Deutschland
Nach dem Putsch von 1980 werden auch Bücher verboten. Es gibt Bücherverbrennungen. Nazim Hikmets Gedichtbände verschwinden wieder von den Regalen der Buchhandlungen. Viele linksgesinnte Poeten dürfen nicht mehr publizieren. Nicht wenige kommen nach Deutschland, wo bereits viele Türken leben. Sie sitzen nicht nur in Kantinen, wie “Hodscha”, der unsere Fragen nach den Zuständen von damals immer bereitwillig beantwortet, nicht ohne einen gewissen Stolz in der leisen Stimme.
Viele der ehemals politisch aktiven betätigen sich nun in Kulturvereinen, geben Zeitschriften heraus, bauen kleine Bibliotheken auf, veranstalten Seminare. Es entsteht eine Konkurrenz zwischen den Moscheevereinen und den kleinen Kulturzentren der Linken. Ich mache einige meiner ersten Lesungen an diesen Zentren, meine Lyrik wird als zu bürgerlich eingestuft. Ich schreibe auf Deutsch.
Die meisten Zuhörer verstehen kein Deutsch. Ich merke, wie fremd diese Menschen für mich geworden ist, wie fremd und fern die Türkei ist. Meine Übersetzungen aus der türkischen Volksdichtung aber werden honoriert. Die türkischen Volksdichter aus den vergangenen Jahrhunderten gelten als progressiv. Sie hatten sich gegen die Herrschaft des Sultans aufgelehnt und standen in Opposition zu den konservativen muslimischen Theologen.
In den 80er-Jahren ist Deutschland zu einem Zentrum der türkischen Kommunisten geworden. In der Türkei waren die Gefängnisse mit ihnen und ihren Sympathisanten überfüllt, nicht wenige Linke endeten am Galgen. In Deutschland aber kümmerte sich sogar die Evangelische Studentengemeinde um die Verfolgten. Ihre Gesinnung
interessiert niemanden. Es genügt die Tatsache vom türkischen Staat verfolgt zu werden.
Repressive Revolutionäre
Es ist das Jahrzehnt des deutschen Asyls. Die Naivität der Deutschen kommt den Türken entgegen, die nicht bereit sind, sich kritisch mit ihrer eigenen Vergangenheit zu beschäftigen. Ist die türkische Revolte von Achtundsechzig überhaupt eine Emanzipationsbewegung?
Oder anders gefragt: wurde sie nicht von selbsternannten "Führern" mit Macho-Allüren kontrolliert, die längst den Boden unter den Füßen verloren hatten? Keine Frage, die Türkei war ein repressiver Staat. Aber die Gegner dieses Staates, oftmals insektiererischer Manier zersplittert in zahllose revolutionäre Zellen, dachten und handelten nicht weniger repressiv. Sie duldeten keinen Widerspruch, sogar die unterschiedlichen Interpretationen der marxistischen Weltsicht führten zu keiner offenen Diskussion, vielmehr zum verbissenen ideologischen Kampf.
Das Weltbild der Revolutionäre hinterfragt nicht die Geschlechterverhältnisse, auch nicht das Verhältnis zur Gewalt. Das ist wahrscheinlich der größte Unterschied zwischen deutschen und türkischen Achtundsechzigern. Letztere bildeten lieber Brigaden als
Kommunen. Lebenslust und Humor gingen ihnen ab. Das Privatleben wurde nicht revolutioniert. Es existierte einfach nicht. Ein Revolutionär, der ernst genommen werden wollte, verliebte sich eben nicht.
Erben des türkischen Aufbruchs
Die türkische Studentenbewegung brachte nicht die "Grünen" hervor, sondern viele selbstverliebte linke Sekten, die sich in ihrer Bedeutungslosigkeit übertrumpften. Es sind nicht die Gruppen aus dieser Bewegung, die Respekt verdienen, sondern viele Einzelne,
die sich durch Engagement und auch eine gewisse persönliche Disziplin und Mut zum kritischen Denken von der Masse abheben.
Diese Einzelnen sorgen dafür, daß das Erbe des türkischen Aufbruchs von Achtundsechzig heute nicht ganz vergessen ist. Die Frage, wie eine Gesellschaft verändert werden kann, wie die Lebensbedingungen der Menschen verbessert werden können, diese linke Grundfrage mit der demokratischen Gesellschaft zu versöhnen nannte man in Deutschland "den Marsch durch die Institutionen". In der Türkei gibt es aber keinen solchen Marsch. Allein das Militär marschiert.
Der Kampf der Linken gegen die Moscheevereine in Deutschland ist inzwischen verloren. Viele kulturell aktive Menschen aus den 80er-Jahren haben sich ins Private zurückgezogen. Sie sind politisch desillusioniert, vielleicht auch entmutigt. Manche von ihnen betreiben Restaurants und kümmern sich – immerhin! – vor allem um ihr persönliches Wohlergehen. Vorbilder für die Jüngeren sind sie nicht mehr. Die Moscheen dagegen haben sich gut organisiert und bekommen Zulauf auch von den Jüngeren.
Religöser Verenigungen vs. Welt des Konsums
Die Situation in Deutschland spiegelt genau die Situation in der Türkei wieder. Nachdem das Militär die linke Bewegung ausgemerzt, die Gewerkschaften geschwächt und die politische Betätigung an Hochschulen verboten hatte, breitete sich über das ganze Land
das Netzwerk der religiösen Vereinigungen aus. Viele von ihnen waren illegal, aber nicht so laut und rebellisch wie die Linken.
Mystische Orden und muslimische Selbsterfahrungsgruppen, selbsternannte Gurus der islamischen Lebensführung, werden jetzt immer mehr zu bestimmenden Kulturträgern. Andersdenkende werden isoliert und an den Rand gedrängt. Die Türkei erinnert sich ihrer muslimischen Identität.
Die einzige nennenswerte Gegenkraft gegen diese Tendenz ist die Welt des Konsums, die Alltagskultur der Globalisierung. Auffallend ist die Sprachlosigkeit der Achtundsechziger Generation gegenüber dieser Entwicklung. Vulgärmaxistische Erklärungsmuster führen nicht weiter. Ein Engagement gegen die “reaktionäre” Entwicklung scheint aussichtslos. Der Zusammenbruch des totalitären Sozialismus hat viel Bitterkeit hinterlassen, aber zu keiner nennenswerten kritischen Selbstreflektion geführt.
Demokratie: Spielwiese des verwöhnten Bürgertums
In den 80er-Jahren aber, als wir demokratisch Gesinnte Türken in Deutschland und in der Türkei den türkischen Staat bekämpften, waren Leute wie der "Hodscha" noch eine Autorität, ein (über)lebendes Exemplar des Widerstands, der Hoffnung auf bessere Zeiten. "Hodscha" sprach gut Französisch, aber kein Wort Deutsch. Deutsch lernen wollte er nicht. Er wollte in die Türkei zurück und dort wieder den Kampf gegen die Oligarchen aufnehmen.
Für die deutschen Genossen, die sich in Parlamenten um Anerkennung und politischen Einfluß mühten, hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. Die parlamentarische Demokratie war für ihn nur eine Spielwiese des verwöhnten Bürgertums. Dieses Bürgertum, das sich in Deutschland demokratisch maskiert hatte, zeigte in der Türkei sein wahres Gesicht.
Waren Deutschland und die Türkei nicht Verbündete? Doch wie erklärte er sich die Tatsache, das Deutschland ihm Asyl gewährt hatte? Solche Fragen überhörte er. Solche Fragen werden von Revolutionären gerne verdrängt, denn sie stören das Weltbild. Die Revolution duldet keinen Nebel, sie erfordert Klarsicht. Doch das ist ungefähr so, wie wenn man ein dunkles Foto aus dem tiefsten Winter durch Überbelichtung aufhellen möchte. Das Ergebnis ist immer eine mißlungene Aufnahme.
Ideologie ist das Feindbild der Posie
Ideologen haben mich immer abgestoßen. Ich sah in ihnen immer die Feinde der Poesie. Denn die Poesie lebt von den Grautönen, von den Stimmen zwischen den Zeilen, von den Schattierungen der Farben. Ideologen aber brauchen immer die scharfen Bilder, die
grellen Farben, die Auflösung des Wortgeheimnisses.
Ich habe "Hodscha" erzählen lassen, aber ihm nie ein Gedicht von mir vorgelesen.
Zafer Senocak
© Goethe-Institut, Fikrun wa Fann, 2008
Zafer Senocak ist 1961 in Ankara geboren, wuchs in Istanbul und München auf und lebt heute in Berlin. Er zählt zu den bedeutendsten türkischstämmigen Schriftsstellern in Deutschland und schreibt auf deutsch und auf türkisch. Zuletzt erschien sein Essayband:
Das Land hinter den Buchstaben. Babel Verlag, Berlin 2006.
Qantara.de
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