Das Volk bleibt außen vor
Heute hört man oft Fragen wie: "Warum lassen sich die Menschen das eigentlich von ihren autoritären Regierungen gefallen? Warum rebellieren die nicht? Warum reformieren oder ändern sie den Status quo nicht? Wollen die denn nicht in einem demokratischen System leben?"
Dem lässt sich entgegenhalten, dass Menschen, die autoritäre Unterdrückung durchaus abschütteln wollen, hierzu aber die organisatorischen Mittel fehlen. Somit ist dies eher eine Frage der Organisation als der Wünsche und Hoffnungen. Die Zivilbevölkerung wird von den herrschenden Eliten systematisch ausmanövriert. Die Erfahrung zeigt, dass jedes Aufbegehren gegen autoritäre Regierungen eher den Diktatoren als der Bevölkerung dient.
Zementierte Macht – das Beispiel Ägypten
Schauen wir nach Ägypten: Seitdem das Land am Nil in die Unabhängigkeit entlassen wurde, wird die Bevölkerung von den Eliten aus Militär, Polizei und Politik gelenkt (den sogenannten herrschenden Blöcken). Die Massen fügen sich diesem Diktat seit mehr als 60 Jahren, da sie über keine gemeinschaftliche Organisation verfügen, die ihnen eine Alternative aufzeigen könnte.
Für das jeweils herrschende Regime würde jede Einbeziehung der Bevölkerung in die Entscheidungsprozesse einen Machtverlust bedeuten. Nasser, Sadat, Mubarak und insbesondere Al-Sisi haben Strukturen zur Absicherung ihres eigenen Überlebens geschaffen. Organisation und Reorganisation ideologischer, politischer, wirtschaftlicher und militärischer Netzwerke wurden durch Zwang und Unterdrückung durchgesetzt. Manche lehnten sich dagegen auf, verfügten im Grunde aber nicht über die notwendigen Mittel zur Durchsetzung fundamentaler Änderungen.
Das kollektive Unvermögen, die Verhältnisse in Ägypten zu ändern, entlud sich 2011 in einem gewaltigen Aufstand der Massen. Diese Dynamiken weisen eine gewisse Dialektik auf und sind miteinander verflochten. Zur Abwehr der kollektiven Vorstöße der Öffentlichkeit gingen die Eliten aus den herrschenden Blöcken aber schon bald zu einer Art Arbeitsteilung über.
Nach dem Sturz Mubaraks entstanden aus diesen kollektiven Vorstößen neue Eliten, die die Macht unter sich aufteilten – wie beispielsweise die Muslimbrüder und die salafistischen Parteien. Der Machtkampf zwischen den konkurrierenden politischen Akteuren zwang das Regime – und hier vor allem die Kräfte aus Militär und Polizei – einen Zusammenschluss der rivalisierenden Kräfte auszuhebeln, um an der Macht zu bleiben.
Lizenz zur holistischen Überwachung
Die Muslimbruderschaft wurde später verboten, während die salafistischen Parteien allgemein vereinnahmt wurden. Dieser Prozess wurde von Konflikten und Kooperationen begleitet und führte schließlich dazu, dass die rivalisierenden Interessen und Ziele der jeweiligen Akteure in institutionalisierte Gesetze und Normen des gesellschaftlichen Lebens einflossen.
Diese Entwicklung hin zu einer Institutionalisierung des gesellschaftlichen Lebens verschaffte den herrschenden Blöcken die Lizenz zur holistischen Überwachung und zur Reorganisation ihrer Machtstrukturen, womit das einfache Volk in Schach gehalten wurde. Alle vom institutionalisierten Rahmen des gesellschaftlichen Lebens abweichenden Kräfte werden damit illegal und können gewaltsam ausgeschaltet werden.
Besonders deutlich wurde dies am brutalen Vorgehen gegen die Muslimbruderschaft und deren Proteste gegen den Militärputsch im Jahr 2013. Unter dem Übergangspräsidenten Adli Mansour verabschiedeten die Putschisten ein neues Demonstrationsgesetz. Das Gesetz 107 vom 24. November 2013 verleiht dem Innenministerium das Recht, jede Demonstration abzusagen, zu verschieben oder die geplanten Strecken zu verlegen, wenn die Informationslage auf ein rechtswidriges Verhalten der Demonstranten schließen lässt. Dieses Gesetz entstand aus der Anwendung der verfassungsrechtlichen Erklärung vom 8. Juli 2013 – nur fünf Tage nach Absetzung von Präsident Mohamed Mursi.
Zwischen Unterdrückung und Kooperation
Hier lassen sich die Dynamiken von zwei Machtkonstellationen beobachten: Die Macht über die Menschen mittels Zwang und Unterdrückung nach dem Prinzip der Gleichschaltung. Und die Macht über die Menschen durch Berufung auf ein gemeinsames Grundverständnis nach dem Prinzip der Kooperation.
In Ägypten gibt es seit 2013 kein gewähltes Parlament mehr. Al-Sisi kann daher Gesetze in Form von Verordnungen erlassen und so seinen Willen gegen den Widerstand der Bevölkerung durchsetzen. Dem Volk als eigentlicher Souverän ist damit die Möglichkeit der Mitwirkung genommen.
Am 29. Juni 2015 wurde Hisham Barakat mit einer Autobombe ermordet. Er war Ägyptens Chefankläger und treibende Kraft hinter den Massenprozessen und vielen willkürlichen Todesurteilen gegen Mitglieder der Muslimbruderschaft. Der Anschlag stärkte die Funktion von Al-Sisi in den Kommunikations- und Interaktionsnetzwerken und verlieh ihm eine noch höhere organisatorische Überlegenheit gegenüber der ägyptischen Bevölkerung.
Auf der Beerdigung von Barakat versprach Al-Sisi, die Gesetze mit dem Ziel zu ändern, der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. "Unter diesen Umständen sind Gerichte wertlos, ebenso wie es die Gesetze sind... Die Gerechtigkeit ist durch Gesetze in Ketten gelegt", sagte Al-Sisi und versprach, sogenannte "Terroristen" je nach Notwendigkeit zum Tode oder zu lebenslangen Haftstrafen zu verurteilen.
Alle Macht dem Diktator
Al-Sisi konsolidiert seine verteilte Macht schneller als jeder andere Diktator im Nahen Osten und zwingt damit der ägyptischen Bevölkerung und dem Land seine Entscheidungen auf. Hierzu vereinnahmte er den Justizapparat ebenso wie die Kommunikationsmittel. Al-Sisi herrscht über Strafverfolgungsmittel (institutionalisierte Mittel) – also Rechtswesen, regierungstreuen Klerus und Medien – sowie über die Zwangsmittel – also Militär, Polizei und Sicherheitsdienste.
Die Menschen fügen sich, da sie keine andere Möglichkeit sehen oder nicht die Mittel haben, die bestehenden Machtstrukturen und politischen Verhältnisse wirklich zu verändern. Sie sind in organisatorische Machtstrukturen eingebettet, die sie selbst nicht steuern können. Sie werden von den Eliten ausgespielt und geschwächt. Zu nennenswerten Änderungen sind sie daher nicht in der Lage.
Dieses Muster gilt nicht nur für Ägypten, sondern für den gesamten Nahen Osten und Nordafrika. Weder für die Syrer, noch für die Jemeniten oder Libyer läuft die gegenwärtige politische Entwicklung in ihren Heimatländern zufriedenstellend. Die Erwartungen und Hoffnungen der Menschen werden durch Revolutionen nur selten erfüllt. Offenbar gelingt es nicht, die Ohnmacht der Menschen auf lange Sicht in eine kollektive Gestaltungskraft umzumünzen.
Hakim Khatib
© Qantara.de 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
Hakim Khatib ist Dozent für Journalismus, interkulturelle Kommunikation sowie Politik und Kultur des Nahen Ostens an der Fulda-Universität für Angewandte Wissenschaften und der Phillips-Universität Marburg. Sein Spezialgebiet ist die Integration der Religion in das politische Leben und politische Diskurse im Nahen Osten. Er ist Chefredakteur des Online-Journals "Mashreq Politics and Culture" (MPC Journal).