Dilemma zwischen Herz und Kopf

Denn so amerikanisiert freiheitsliebend Pamuks Held einerseits auch auf den ersten Blick wirkt - so sehr fühlt er sich andererseits doch dem alten, patriarchalischen Ehrenkodex seiner türkischen Heimat verpflichtet.
Entsprechend verlobt sich Kemal tatsächlich mit Sibel. Was Füsun wiederum so sehr schockiert, dass sie nach der Feier spurlos verschwindet. Erst ein Jahr später findet der verzweifelte Kemal die verlorene Geliebte wieder: inzwischen mit einem anderen Mann verheiratet.
Orientalischer Männerstolz
Pamuk nimmt besonders die sexuelle Doppelmoral der feinen türkischen Gesellschaft aufs Korn, die sich nur vordergründig westlich locker gibt, in Wahrheit aber immer noch dem orientalisch-strikten Diktum anhängt, wonach Frauen als Jungfrauen in die Ehe gehen müssen.
Mit diesem islamischen Unschuldskult aufgewachsen, findet Kemal auch eine völlig andere Lösung für seinen Liebesschmerz als seine tragischen Vorgängerinnen des europäischen Romans. Statt Selbstmord zu begehen, macht er aus seiner unerfüllten Liebe eine Privatreligion. Und aus der verlorenen Geliebten kurzerhand eine Heilige.
Acht Jahre lang pilgert Kemal zu Füsuns Haus, um die Verheiratete beim Abendessen platonisch anzuhimmeln. Und alle Gegenstände, die Füsun in dieser Zeit berührt, werden für Kemal nun plötzlich zu Reliquien, die er in einem eigens eingerichteten "Museum der Unschuld" sammelt: vom Taschentuch bis zum Zigarettenstummel.
Den neuen Roman von Orhan Pamuk sollte man nicht vorschnell als Lobeshymne auf die Liebe an sich lesen. Denn wie alle Fanatiker ist auch Kemal ein zweifelhafter und manipulativer Charakter, der das Unglück der schließlich tödlich verunglückenden Füsun entscheidend mitverschuldet.
Seine Chronik liest sich darum wie das radikale Zeugnis eines Mannes, der – stellvertretend für viele moderne Türken - innerlich zerrissen scheint zwischen westlichem Freiheitskult und orientalischem Männerstolz.
Gisa Funck
© DEUTSCHE WELLE 2008
Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld, Hanser-Verlag 2008, 24.99 Euro
Qantara.de
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