Im Krieg mit dem eigenen Volk
Nach wie vor fällt den syrischen Machthabern nichts anderes ein, als die gegen sie erhobenen Proteste blutig niederzuschlagen – nun schon seit über vier Monaten. Dissidentenkreise in Damaskus sprechen von 12.600 Personen, die verhaftet worden sein, 3.000 Menschen werden vermisst. Die Regierung spricht dagegen nur von 1.500 getöteten Zivilisten und 350 Sicherheitskräften.

Zwischendurch waren es Homs und Lattakia, aber auch Teile der Hauptstadt Damaskus. Immer wieder kam es in Deir al-Zour, im Nordosten des Landes, zu blutigen Auseinandersetzungen. Jetzt muss es auch der Syrien Wohlgesonnenste begriffen haben: das Regime befindet sich im Krieg mit dem eigenen Volk.
Als Begründung für das brutale Vorgehen wird offiziell eine Verschwörung von außen genannt. Das staatliche syrische Fernsehen spricht von "bewaffneten Banden", die von außen gesteuert, das Regime in Damaskus destabilisieren wollten. Doch die Unterschiedlichkeit der Proteste führt diese Begründung ad absurdum.
In der Tradition des Widerstands
Während in Deraa die zumeist sunnitisch-arabischen Stammesführer gegen die Zentralregierung in Damaskus aufstehen, ist die Mehrheit der Einwohner in Deir al-Zour kurdischen Ursprungs. Sie liegen schon lange im Clinch mit der regierenden Familie Assad, fordern mehr Rechte und Autonomie, werden dafür seit Jahrzehnten verfolgt, getötet und ins Gefängnis gesteckt.
Auch Hama hat eine Tradition des Aufstandes. Dort waren es 1982 die fundamentalistisch geprägten Muslimbrüder, die gegen die Führung in Damaskus rebellierten. Vater Hafiz Al-Assad ließ Panzer auffahren und auf Demonstranten schießen. Sohn Bashar scheint diese Praxis nun zu kopieren. Damals wie heute müssen Hunderte mit dem Leben bezahlen. Von den Tausenden Verletzten ganz zu schweigen. Doch während vor fast 30 Jahren Hama ein Einzelfall blieb, ist der Protest heute flächendeckend. Jeder tote Demonstrant bringt zig neue Gegner auf die Beine, so die Überzeugung der Dissidentenszene.

So habe Präsidentenberaterin Bothayna Shaaban vor wenigen Tagen erklärt, dass die Demonstrationen ein "sektiererisches Komplott" seien und nichts mit friedlichen Protesten zu tun hätten. Dies sei ein Angriff auf das Zusammenleben unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gruppen in Syrien. Die Demonstranten seien Salafisten und radikale Islamisten.
Förderung ethnischer und religiöser Konflikte
Bassel Oudat hat noch etwas anderes beobachtet: Mitglieder aller ethnischen und religiösen Gruppen seien derzeit in Syrien auf der Straße und protestieren gegen Diktatur und jahrelange Unterdrückung – und zwar ausnahmslos. In Homs, Syriens drittgrößter Stadt, habe er Spruchbänder gesehen mit der Aufschrift "Wir sind alle Syrer und fordern gemeinsam den Sturz des Regimes" und er habe Slogans gehört mit dem Aufruf zur Einheit des Landes.

Bei so vielen Peitschenhieben für das Volk, mutet das Zuckerbrot, das Präsident Bashar al-Assad zuweilen verkündet, wie eine Henkersmahlzeit an. Zuerst stellte er den Kurden mehr Freizügigkeit in Aussicht, versprach gar die syrische Staatsbürgerschaft für diejenigen, die sie aufgrund ihrer politischen Agitation entzogen bekamen. Dann hob er den seit 1963 geltenden Ausnahmezustand auf und verkündete schließlich ein neues Parteiengesetz.
Worthülsen ohne Inhalt

Doch all das sei eine Farce, reagiert die Opposition: Worthülsen ohne Inhalt. Tatsächlich ist bis jetzt nicht eine einzige der versprochenen Reformen umgesetzt worden. Stattdessen erhielten die syrischen Sicherheitskräfte Verstärkung aus dem Iran, um noch "effektiver" gegen die Demonstranten vorzugehen.
Diplomatische Beobachter in Damaskus sprechen gar von dem Teheran-Syndrom, Parallelen zu der so genannten "Grünen Revolution" im Iran nach den Wahlen von vor zwei Jahren. Doch anders als in Libyen, wo die internationale Gemeinschaft relativ schnell intervenierte und sich auf die Seite der Reformer stellte, bleiben die Reaktionen auf die Lage in Syrien auf bloße Lippenbekenntnisse beschränkt.
Deutschland versucht nun schon zum dritten Mal eine Resolution im UN-Sicherheitsrat durchzubringen. Eine Verstärkung der Sanktionen wird angedroht. Doch schon seit dem Irak-Krieg 2003 werden die Sanktionen immer wieder verschärft. Assad und seine Truppe hat dies bislang nicht sonderlich beeindruckt.
Und anders als in Libyen, als die Arabische Liga, allen voran der Golfstaat Qatar, sich ebenfalls schnell zu einer Verurteilung von Machthaber Gaddafi durchrang und im Einklang mit den westlichen Staaten dessen Rücktritt forderte, herrscht im Falle Syriens eisernes Schweigen. "Euer Schweigen tötet uns!", ist nun auf einigen Spruchbändern der Protestierer in Hama zu lesen, womit auch die bisherige Haltung der arabischen Nachbarn kritisiert wird.
Svenja Andersson
© Qantara.de 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de