Psychologie großer Kollektive



Maalouf, 1949 im Libanon geboren und seit Jahrzehnten in Frankreich lebend, kennt beide Regionen: die arabische Welt ebenso wie die westliche. So ist er auch einigen Gepflogenheiten des Westens gegenüber skeptisch.
Es gehe nicht an, unbefangen an die Unverrückbarkeit der Religionen oder deren unabänderliche Prägekraft zu glauben. Religionen und Kulturen seien keine starren Gebilde.
Dennoch würden die in die westlichen Länder ziehenden Migranten immer noch überwiegend nach ihrer Herkunft identifiziert und auf diese festgeschrieben. Dynamische, wandelbare, sich entwickelnde Identitäten – das könne man sich im Westen immer weniger vorstellen. Und genau darin folge der Westen einer globalen Tendenz, die dazu neige, kulturelle Unterschiede als kulturelle Grenzen zu sehen – und zwar als kaum überwindbare Grenzen.
Das liege auch an der spezifischen Qualität der westlichen Staaten: Sie seien Nationalstaaten, die eine rigide, eindimensionale Vorstellung von Identität hervorgebracht hätten. Von den großen Traditionen kulturübergreifender Reiche – das Alexanderreich, Rom, das Osmanen- und das Habsburgerreich: von deren Traditionen sei nicht mehr viel übrig geblieben. So recht könne man sich darum eine mehreren Kulturen verpflichtete Person nicht vorstellen.
Fremdsprachen als Schlüssel zum Kulturdialog
Im Hinblick auf eine positive Entwicklung ist Maalouf skeptisch. Zwar merkten beide Regionen jetzt, wie dringend es sei, einander weniger dogmatisch zu betrachten, und die Wahrnehmung nicht nur auf religiöse und kulturelle, sondern auch politische und ökonomische Faktoren zu gründen. Aber einfach sei das nicht, zu fest seien die etablierten Wahrnehmungsmuster.
Maalouf ist selbst in drei Sprachen, dem Arabischen, dem Englischen und dem Französischen, zu Hause. Und so wenig er den Religionen abgewinnen kann, so sehr schwärmt er von den Möglichkeiten der sprachlichen Kommunikation.
Jeder Mensch müsse mehrsprachig sein, neben dem Englischen mindestens eine weitere Fremdsprache beherrschen. Denn Sprachen sind der Schlüssel, so Maalouf, sie öffnen den Weg zur Begegnung mit fremden Kulturen.
Natürlich sind solche Begegnungen nicht ohne Anstrengung und Konflikte zu haben. Aber welches tiefere Vergnügen wäre umsonst zuhaben? Die Welt wächst zusammen. Darüber wird sie unendlich gefährlich. Es sei darum Zeit, schreibt Maalouf, dass Orient und Okzident einander auf neue Art wahrnehmen, sich mehr füreinander interessierten.
Das, schreibt Maalouf weiter, sei nicht nur politisch von Bedeutung. Zugleich könne es beide Regionen auch kulturell unendlich bereichern.
Kersten Knipp
© Qantara.de 2010
Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de
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