Religion darf nicht als Integrationsproblem betrachtet werden

Integration ist eine soziale Frage. In seiner Rede spricht Minister de Maizière auch vom islamischen Religionsunterricht als ein Mittel der Gleichberechtigung von muslimischen Schülern. Das ist richtig und gut: Muslimische Schüler denken im Unterricht in deutscher Sprache über ihren Glauben nach und werden für das Zusammenleben in einem christlichen und areligiösen Umfeld sensibilisiert. Partizipation ist das Schlüsselwort, nicht Integration. Vom islamischen Religionsunterricht darf also kein Integrationswunder erwartet werden.
"Integration" bedeutet sich in ein großes Ganzes einfügen. In diesem Begriff wird die deutsche Gesellschaft als ein homogenes Kollektiv imaginiert. Die muslimische Identität ist nicht an ethnische oder nationale Identitäten gebunden, sondern der Islam betont die Gleichheit aller Menschen vor Gott.
Leider spielen in manchen Moscheevereinen nationale Identitäten noch eine Rolle. Hier stellt der islamische Religionsunterricht in deutscher Sprache eine große Chance dar: Durch das gemeinsame Lernen von bosnisch-, arabisch-, afrikanisch-, türkisch- und deutschstämmigen muslimischen Schülern wird der egalitäre Gedanke des Islams betont. Das ist ein starkes und wichtiges Moment gerade im pluralistischen Deutschland.
Somit sehe ich im islamischen Religionsunterricht auch eine Chance für das Zusammenwachsen und den respektvollen Umgang innerhalb der muslimischen Gemeinden und mit den Nichtmuslimen. Deswegen ist die Einführung des islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen zu begrüßen.
Paradoxe Situation
Grundsätzlich stellt sich aber die Frage: Wenn der bekenntnisneutrale Staat etwa in Nordrhein-Westfalen das Tragen von islamischen Kopfbedeckungen für Lehrerinnen verbietet, wird er sich vielleicht auch daran stören, dass Schüler das islamische Gebet lernen? Beides ist gelebte Religiosität. Eine paradoxe Situation.
Die öffentliche Meinung beeinflusst die Politik und umgekehrt. In der öffentlichen Meinung wird islamische gelebte Religiosität nicht selten als Störfall wahrgenommen: Wir erinnern an das Gerichtsurteil im Fall des Berliner Schülers, der sein Recht auf Gebet in der Schule eingeklagt hatte und damit für viel Verstörung gesorgt hatte.
Pädagogisch und juristisch gesehen sind solche Fragen kein Problem, man kann sie auf diesen Wegen lösen, so dass alle Beteiligten zufrieden sind. Doch der Störeffekt bleibt. Er ist ein Hinweis dafür, dass gelebte muslimische Religiosität noch als etwas Fremdes betrachtet wird.
Die Öffentlichkeit sieht indes noch Probleme, die in der Realität schon aufgehoben sind. Zum Beispiel das Zusammenspiel der muslimischen "Konfessionen": Die türkischen Aleviten sind in einigen Bundesländern als eigene Religionsgemeinschaft anerkannt und haben bereits einen eigenen konfessionellen Religionsunterricht eingeführt.
Im muslimischen Dachverband Schura Niedersachen e.V. haben sich sunnitische und schiitische Muslime verschiedener Herkunft zusammengetan und ein gemeinsames Curriculum ausgearbeitet. Sunnitische Kinder lernen etwas über schiitische Besonderheiten und umgekehrt – allein das ist eine enorme Bereicherung, denn diese Form von dialogischer Reflexion findet im Koranunterricht der Moscheen kaum statt.
Das islamische "Konfessionsproblem" ist ein mediales Gespenst, dass von Seiten der muslimischen Verbände und Beiräte für den islamischen Religionsunterricht keine Rolle spielt.
Die Sorgen liegen auf muslimischer Seite anderswo: Manche Eltern haben Angst vor einem sinnentleerten Inhalt in diesem Unterricht. Sie wünschen sich einen authentischen und ganzheitlichen Religionsunterricht, der auch die Glaubenspraxis einbezieht: Das heißt nicht, dass die Schülerinnen ein Kopftuch tragen und die Schüler sich nach dem Vorbild des Propheten Muhammad einen Bart wachsen lassen sollen – Glaubenspraxis lehren bedeutet, Rituale lehren: Zum Beispiel das fünfmalige rituelle Gebet lehren. Doch wie wird das geschehen: Wird der Lehrer einen Gebetsteppich ausbreiten und sich darauf gen Mekka niederwerfen? Wohl kaum.
Die Schule kann nicht alles leisten. Daher sollte die Schule der Ort der Theorie sein und die Moschee der Ort der Orthopraxie. Das für das rituelle Gebet notwendige Auswendiglernen von Koransuren etwa muss die Moschee und die Familie leisten – Schule und Moschee können sich so ergänzen.
Freie Entscheidung über Glaubenspraxis
In der Schule kann über den spirituellen Sinn der einzelnen Handlungen im Gebet reflektiert werden. Die Schule kann nur theoretisches Wissen liefern, und das ist auch gut so. Jeder Schüler soll sich frei entscheiden können, wie er seinen Glauben praktiziert.
Für den praktischen Unterricht stellen sich aber auch ganz andere Fragen: Wie wird das Thema Götzenbildverbot im Unterricht behandelt werden? Im Islam ist die Anbetung von Bildern, auf denen Allah, die Propheten oder andere Personen dargestellt sind, tabu.
Im Idealfall dürfen solche Bilder erst gar nicht hergestellt werden, weil sie den Eingottglauben relativieren könnten. Solche Detailfragen stellen den Unterricht vor Herausforderungen und müssen religionspädagogisch noch bearbeitet werden. Teilweise gehen sie theologisch in die Tiefe, so dass sich die Frage stellt, ob sie überhaupt an der Schule vermittelbar sind. Ist die Schule der richtige Ort dafür?
Das sind religionspädagogische Fragen. Das größte Problem für den islamischen Religionsunterricht ist das Fehlen von adäquat ausgebildetem Lehrerpersonal. An vielen Schulen unterrichten Lehrer, die für das Fach gar nicht ausgebildet sind. Oft sind es Türkisch- und Arabischlehrer.
Die religiöse Einstellung der Lehrer reicht von religionskritisch über areligiös bis hin zu sehr religiös. Man kann sich unschwer vorstellen, wie bei einem religionspädagogisch nicht ausgebildetem Personal die persönliche Haltung zur Religion auch den Unterricht bestimmt.
Aus diesem Grund ist eine akademische Ausbildung der Religionslehrer, insbesondere im Bereich der Didaktik, entscheidend für einen pädagogisch sinnvollen Islamunterricht. Die seit Jahren anhaltende Diskussion um die politischen Rahmenbedingungen muss aufhören.
Was nun benötigt wird, ist eine Diskussion um die pädagogischen Rahmenbedingungen. Die Universitäten müssen die Religionspädagogik ausbauen und über didaktische Fragen nachdenken, so dass eine Erziehung zu wertrelevantem Verhalten stattfinden kann.
Nimet Seker
© Qantara.de 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de