Identität als Folklore
Allerdings: Diese Gereiztheit, warnt sie, lasse sich politisch leicht missbrauchen. Der schiitische Nationalismus in Iran dürfte in der muslimischen Welt derzeit das abschreckendste Beispiel einer Politik sein, die sich vor allem negativ, nämlich in Opposition zum Westen, definiert und die Abgrenzung zum vornehmsten Programmpunkt erhebt.
Solche Phänomene finden sich allerdings nicht nur in der muslimischen Welt: In Venezuela und Bolivien zücken Chavez und Morales derzeit die "indigene Karte", in Zimbabwe betreibt Robert Mugabe eine perverse Spielform der "négritude".
Solche Beispiele vor Augen, beobachtet Bessis einen Funktionswandel der Identitätspolitik: Diente sie früher dazu, Unabhängigkeitsbewegungen ideologisch zu formieren, ihren Mitgliedern einen gemeinsamen Bezugspunkt und damit Schlagkraft zu verleihen, so dienen sie jetzt meist populistischen Zwecken – weniger darauf angelegt, dem Wohl ihrer einfachen Mitglieder als vielmehr deren Führern zu dienen.
Kolonisierung ohne Kolonialisten
So zeigen diese Bewegungen ein wesentliches Manko moderner Identitätspolitik auf: Sie verschafft vielleicht Genugtuung, da sie ihren Anhängern das Gefühl gibt, eigenständig zu handeln, Entscheidungen umzusetzen, die sie selbst getroffen haben, eine Identität zu leben, die nur sie haben, die sie von allen anderen Menschen unterscheidet.
Allerdings: Eine wirkliche Alternative zur Dominanz des Westens, beobachtet Bessis, stellt diese Politik nicht dar.
Denn auch sie folgt ja dem Prinzip des Individualismus, wie vor allem das Verhalten ihrer Führer zeigt. Eigennutz, Interessenspolitik, Kalkül:
In ihrer Logik unterscheiden sich diese kulturell, religiös oder ethnisch begründeten Bewegungen in nichts von denjenigen des Kapitalismus westlicher Spielart. Es gibt "kein Außen" mehr, beobachtet Bessis, d.h. keine dieser Bewegungen vermag sich außerhalb der kapitalistischen Logik zu stellen.
Alle stehen sie vor jenem Problem, das man seit einiger Zeit als "Kolonisierung ohne Kolonialisten" bezeichnet: den Umstand also, dass sich die kapitalistischen Spielregeln weltweit durchgesetzt haben und ernstzunehmende Alternativen bislang nicht erkennbar sind.
Der Schleier als Symbol
Diese Beobachtung bildet auch die Grundlage ihres jüngsten Buches "Les Arabes, les femmes, la liberté" ("Die Araber, die Frauen, die Freiheit"). Darin argumentiert die entschiedene Feministin gegen die Spielformen der weiblichen Verhüllung.
Die Frauen, schreibt sie, seien das letzte eindeutige Symbol ansonsten bereits grundlegend modernisierter – und das heißt vor allem: erschütterter – Gesellschaften.
Da sich in den meisten Ländern der arabischen Welt eine neue, den Spielregeln des Weltmarkts angepasste Gesellschaft noch nicht etabliert hätte, seien die Menschen auf der Suche nach Richtlinien. Die fänden sie in der Religion, genauer: in deren Symbolen.
Diese Symbolik werden vor allem von den Frauen inszeniert: "Identität = Religion = verschleierte Frau" – auf diese Formel bringt Bessis das Phänomen der neuen Religiosität. Daran mögen viele Frauen (und Männer) etwas auszusetzen haben.
Die Frage aber bleibt: Kann eine kulturelle oder religiöse Symbolik sich auf Dauer gegen die Logik des Weltmarktes durchsetzen? Bessis hat ihre Zweifel.
Gleichzeitig aber kritisiert sie auch die Dominanz der westlichen Kultur. Und setzt sich darum ein für eine Welt, in der kein Schulkind mehr mit Herablassung auf das andere schaut.
Kersten Knipp
© Qantara.de 2009
Bessis' Sachbuch "L'Occident et les autres" ist 2001 im Verlag "Édition La Découverte" auf Französisch erschienen.
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