Wege zu einem authentischen Säkularismus
Zwei Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings bestätigt eine Reihe politischer Entwicklungen eine Behauptung aus meinem Buch "Islam, Secularism and Liberal Democracy" (2012). Darin argumentierte ich, dass in muslimischen Gesellschaften der Weg zur Demokratie, welche Biegungen und Wendungen er auch nevhmen wird, "nicht umhin kann, die Tore der religiösen Politik zu durchqueren". Damit meinte ich zweierlei Dinge.

Religion und Politik
Zum zweiten argumentierte ich, dass religiös begründete Parteien und religiöse Intellektuelle eine besonders wichtige Rolle in der Demokratisierung ihrer Länder spielen könnten, vorausgesetzt, dass sie ihre politische Theologie mit den universellen Standards der Menschenrechte und den modernen Anforderungen der Demokratie in Einklang brächten. Letztere Entwicklung findet bereits statt – zwar nur allmählich, doch ihre Existenz kann nicht geleugnet werden.
Beispielsweise demonstriert die führende Rolle der islamistischen Ennahda-Partei im demokratischen Übergang Tunesiens, dass Formen von religiöser Politik und demokratischer Entwicklung tatsächlich vereinbar sind. Auch wenn die Lage der religiösen Parteien in Ägypten komplizierter ist, kann man auch in diesem Land einen ähnlichen Trend beobachten.
Wirft man einen Blick in die Zukunft, dann ist klar, dass ein demokratischer Wandel in muslimischen Gesellschaften auch weiterhin tief verflochten sein wird mit der Fähigkeit religiös orientierter politische Akteure, eine Form des politischen Säkularismus zu entwickeln, der mit den kulturellen Traditionen des Landes vereinbar ist.
Postkoloniales Erbe

Die Herausforderungen, die der arabisch-islamischen Welt bezüglich des politischen Säkularismus bevor stehen, wurden im September 2011 bei der Ägypten-Reise des türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdogan, dessen Land von den meisten Islamisten als eine Art politisches Model erachtet wird, deutlich. Er wurde dort wie ein Held bejubelt. Tausende Menschen, zum Großteil Unterstützer der Muslimbrüder, kamen, um einen Blick auf den türkischen Führer zu erlangen. "Erdogan! Erdogan! Ein wahrer Muslim und kein Feigling", riefen sie, als sie ihn sahen.
Als Teil seiner Medienkampagne gab Erdogan ein Interview in der bekannten ägyptischen Talkshow "10 O'clock", in dem er das Konzept des Säkularismus verteidigte. "Seid nicht misstrauisch gegenüber dem Säkularismus. Ich hoffe, dass es einen säkularen Staat in Ägypten geben wird", verkündete er und erklärte weiterhin: "Ägypter, die glauben, dass der Säkularismus die Religion vom Staat entfernt oder ein ungläubiges Staatssystem ist, befinden sich im Irrtum. Säkularismus bedeutet Respekt gegenüber allen Religionen. Wenn dies umgesetzt wird, kann die ganze Gesellschaft in Sicherheit leben."
Die Reaktion der Muslimbrüder auf diese Worte war auffallend deutlich. Die anfängliche Begeisterung und der Enthusiasmus für den türkischen Premierminister schlugen schnell um. Plötzlich wurde er beschuldigt, sich in Ägyptens interne Angelegenheiten einzumischen und ohnehin nur die Vorherrschaft in der Region anzustreben. Erdogans Heldenstatus wurde in Frage gestellt, ebenso die Vorbildhaftigkeit der Türkei für die arabische Welt.
Vom säkularen zum zivilen Staat

Eine Einigkeit über die Bedeutung dieses Konzepts, das Kernthemen wie Minderheitenrechte, Geschlechterrollen, die Art des Rechtssystems und Gewaltenteilung einschließt, herrscht allerdings noch nicht. Das Thema wird in der arabischen Welt energisch diskutiert und die Öffnung des politischen Raums und das Erblühen einer Mehrparteien-Politik wird zwangsläufig Klarheit in diesen Bereichen schaffen. Angesichts der Tatsache, dass Tunesien ein Vorbote dessen sein kann, wie ein islamistisch geführter "Zivilstaat" aussehen könnte, gibt dies Grund für Hoffnung.

In vielerlei Hinsicht repräsentiert Tunesien ein Lichtblick im Arabischen Frühling, besonders in Bezug auf die Versöhnung von Islam, Säkularismus und Demokratie. Rashid Ghannouchi, der geistige Führer und Gründer von Ennahda, spielt hierin eine Vorreiterrolle. Durch eine Reihe von Interviews und Vorträgen hat er damit begonnen, die Spannung zwischen Säkularismus und islamisch-politischen Denken zu lockern.
Diese Debatten und politischen Transformationen erinnern an das Konzept der "multiple modernities" des Soziologen Shmuel Eisenstadt. Dieser argumentierte, dass das kulturelle Umwandlungsprogramm und die aus Europa stammenden institutionellen Regelungen nicht der einzige Weg in die Moderne seien. Verschiedene Kulturen und Regionen begehen verschiedene Wege und können unterschiedliche Erfahrungen in ihren Modernisierungsprozessen vorweisen. Mit anderen Worten, ein Modell kann nicht auf die ganze Welt angewandt werden, vor allem nicht wenn es darum geht, die tiefen Spannungen zwischen Religion, Säkularismus und Demokratie auszusöhnen.
Diese Beobachtung hat besondere Relevanz im Fall der gegenwärtigen arabisch-islamischen Welt. Wir sollten sie stets im Hinterkopf behalten, da wir versuchen, die sich entfaltenden Ereignisse des Arabischen Frühlings zu verstehen, ebenso wie den einzigartigen Weg der demokratischen Entwicklung, den die muslimischen Gesellschaften zurzeit beschreiten.
Nader Hashemi
© Qantara.de 2013
Aus dem Englischen von Laura Overmeyer
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de