Willkürlicher Ermessensspielraum



Es gibt kein Gesetz, das explizit verbietet, den Massenmord an den Armeniern 1915 als Völkermord zu bezeichnen. Dennoch haben es nationalistische Gruppen im Verein mit gleich gesinnten Staatsanwälten in den letzten Jahren etliche Male geschafft, Schriftsteller wie Orhan Pamuk oder Elif Shafak, besonders aber international weniger bekannte Journalisten vor Gericht zu bringen, weil sie behaupteten, die Rede vom Völkermord entspräche laut Paragraph 301 dem Straftatbestand der "Beleidigung des Türkentums".
Paragraph 301 als Vorwand
Letztlich ist jedoch aufgrund dieses Paragraphen kaum ein Angeklagter verurteilt worden. Vielmehr ist dies der Versuch, mittels des Strafrechts eine Debatte zu verhindern, die sich nicht mehr verhindern lässt.
Auch in der Debatte um die richtige Strategie im Umgang mit der kurdischen Minderheit wird das Strafrecht immer wieder als politische Waffe benutzt, um unliebsame Intellektuelle oder Vertreter der kurdischen Minderheit unter Druck zu setzen.
Gegen den Bürgermeister von Diyarbakir laufen einige Verfahren wegen vermeintlicher Unterstützung einer Terrororganisation – der PKK –, die aber hauptsächlich deshalb geführt werden, um einen populären Politiker aus dem Amt zu jagen.
Weniger einflussreiche kurdische Intellektuelle können durchaus über Autonomie und Verfassungsänderungen diskutieren, der Staatsanwalt kommt meistens nur dann, wenn es gilt, politisch relevante Leute kaltzustellen.
Letztlich verschieben sich aber fast täglich die Koordinaten hin zu selbstbewussteren öffentlichen Auftritten von Oppositionspolitikern und kritischen Aktivisten. Der Grund liegt darin, dass der Staat, seit die islamische AKP die Regierung stellt, nicht mehr als monolithischer Block auftritt, sondern der Riss mitten durch den Apparat verläuft.
Lösungen durch öffentliche Auseinandersetzungen
Vor allem in der Auseinandersetzung um den laizistischen Staat muss der Streit nun mit Argumenten geführt werden, weil man einen Ministerpräsidenten nicht einfach verhaften kann. Seitdem gebärdet sich ein Teil der islamistischen Presse so aggressiv, dass plötzlich Klagen aus dem Ausland kommen, die das Einschreiten der Regierung fordern.
Der öffentliche Schlagabtausch bleibt jedoch nicht auf das Thema Laizismus versus Islam beschränkt. Erst jüngst kam völlig überraschend der rechtsnationale Vorsitzende der Partei des Rechten Weges (DYP), Mehmet Agar, mit dem Vorschlag in die Schlagzeilen, die türkische Politik müsse sich darum bemühen, die PKK von den Bergen zu holen und in den politischen Prozess zu integrieren.
Hätte dies ein kurdischer Politiker gesagt, wäre er sicher dafür angeklagt worden. Agar ist als ehemaliger Innenminister allerdings immun gegen den Vorwurf, er sympathisiere mit einer Terrorgruppe.
Doch Agar hat deutlich gemacht, dass Lösungen in heiklen gesellschaftlichen Fragen eben nicht mehr mit dem reinen Beharren auf dem Status Quo oder dem Einsatz des Militärs erreicht werden können, sondern nur durch öffentliche Auseinandersetzung.
Gegen diese Erkenntnis werden noch viele Staatsanwälte anrennen, aber die Entwicklung der letzten zehn Jahre hat gezeigt, dass sie letztlich auf verlorenem Posten stehen.
Jürgen Gottschlich
© Qantara.de 2007
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