Parabel auf die Diktatur

Al-Koni: Seif al-Islam wollte die Gesellschaft modernisieren. Er wusste, dass die Bevölkerung dies brauchte und ihm vertraute. Die Leute sind des autoritären Systems seit langem überdrüssig und völlig verzweifelt. Das Reformprojekt ist am Widerstand von Muammar Gaddafi gescheitert. Das war ein Machtkampf zwischen Vater und Sohn. Als Gaddafi international wieder eine Rolle spielte und vom Westen gestützt wurde, hielt er es nicht mehr für nötig, Reformen einzuführen. Die internationale Gemeinschaft hat viel dazu beigetragen, dass der Despot so lange an der Macht blieb.
Wie reagierten die Menschen auf das Scheitern des Reformprojekts?
Al-Koni: Die Libyer waren frustriert, als auf die Ankündigung von Reformen, positiven Veränderungen und mehr Pressefreiheit nichts folgte, als sich herausstellte, dass dies leere Versprechungen waren. Wenn die Verzweiflung einmal so tief ist und die Hoffnungslosigkeit dominiert, ist man bereit alles zu riskieren, wie es jetzt geschieht auf Libyens Straßen. Wenn man an diesem Punkt angelangt ist, riskiert man sogar sein Leben.
Was wird als nächstes geschehen, wenn Gaddafi und sein Clan weg sind?
Al-Koni: Diese Frage kann man jetzt noch nicht beantworten. In Benghazi tanzen die Leute auf der Straße. Wenn Gaddafi weg ist, muss sich die Gesellschaft organisieren. Das ist eine Frage der Zeit und der Organisation, wie in Ägypten. Man muss Geduld haben.
Wie sieht Ihre Vision von Libyen ohne Gaddafi aus?
Al-Koni: Ich habe Libyen noch als Königreich erlebt und dann das Regime Gaddafis – ich kann mir alles vorstellen. Irgendwann könnte Libyen zu einem freien, demokratischen Land werden. Ich weiß allerdings nicht, ob ich dies noch erleben werde. Das ist ein langwieriger Prozess. So wie Libyen jetzt war, wird es sicher nicht bleiben. Der Weg führt klar in Richtung Freiheit und Demokratie, da gibt es kein Zurück mehr. Niemand kann sich jetzt noch Illusionen machen, in Libyen absolut zu regieren. Dies gilt auch für Tunesien und Ägypten.
In Ihrem Roman „Das Herrscherkleid“ geht es um Tyrannei als ein zerstörerisches Krebsgeschwür. Ist dies eine Parabel auf die Diktatur in Libyen?
Al-Koni: Der Roman beschreibt die wahnhafte und krankhafte Symbiose eines Menschen mit der Macht. Dies zeigt sich, indem sein Herrscherkleid eines Tages mit seiner Haut verwachsen ist. Dieses Kleid auszuziehen, heißt für ihn zu sterben. Dieser Roman ist ein Dokument gegen die Tyrannei, und zwar nicht nur in Libyen und der arabischen Welt, sondern gegen jede Tyrannei. Ich schreibe metaphorisch. Ich bin nicht Politiker, sondern Schriftsteller und ich schreibe philosophische Literatur. Das menschliche Machtstreben war schon immer mein dominierendes Thema, sei es politische Macht, moralische, psychische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Macht. Ich bin besessen von diesem Thema.
Inspiriert Sie der Umbruch in der arabischen Welt für einen neuen Roman?
Al-Koni: Ich bin fasziniert von Mohammed Bouazizi, dem tunesische Gemüsehändler, dessen Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid die Revolution in Tunesien auslöste. Seine Handlung war der Funke, der den Flächenbrand entzündet und letztlich die ganze arabische Welt verändert hat. Wenn ich über diese Revolutionen, Umwälzungen in der arabischen Welt schreiben werde, dann gehe ich zu den Wurzeln, zu den Anfängen. Literatur geht immer an die Wurzeln.
Ist Mohammed Bouazizi ein arabischer Held?
Al-Koni: Ich möchte diesen Mann als heilig bezeichnen. Die ganze arabische Welt sollte ihm dankbar sein. Er ist der Christus unserer Zeit, er hat sein Kreuz getragen und sich geopfert. Ein Symbol der Hoffnung. Diese Erdbeben, die jetzt durch die arabische Welt laufen, gehen auf ihn zurück. Wenn ich über ihn schreibe, dann schreibe ich zugleich über alles, was er ausgelöst hat. Das ist Literatur, sie schreibt über die Welt auf indirekte, metaphorische Weise. Die Idee, über diese Ereignisse zu schreiben, hat mich befallen wie eine Krankheit. Das ist äußerst fruchtbar für einen Schriftsteller, etwas Tiefes, eine titanische Inspiration.
Interview: Susanne Schanda
© Qantara.de 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
1948 geboren, wuchs Ibrahim al-Koni in einem Tuareg-Stamm in der Wüste Libyens auf. 1970 emigrierte er nach Moskau, wo er am Gorki-Institut Literatur studierte. Als Journalist arbeitete er in Moskau und Warschau, bevor er 1993 in die Schweiz zog, wo er bis heute lebt. Er gehört zu den Großen der arabischen Gegenwartsliteratur. Seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.
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