Gelebte Tradition im deutschen Alltag



Überhaupt nicht, meint einer der Anwesenden. Sufismus sei konkret und praktisch: "Die erste Ordensregel ist, dass man heiratet. Dann hat man vielleicht bald Kinder, sucht sich einen Beruf, um die Familie zu ernähren. Es ist das Gegenteil von Rückzug: Keine Wahrheitssuche im Kloster, sondern im alltäglichen Leben."
"Heiraten und Kinderkriegen, diese Ordensregel gibt es bei uns nicht!", meint dagegen Hassan Dyck. Offenbar existieren keine strengen Verhaltensregeln - zumindest keine, die einheitlich nach Außen vertreten werden.
Vorbild Osmanisches Reich
Was hat es mit der osmanischen Tracht auf sich, den Turbanen und Bärten? Das Osmanische Reich sei für den Orden ein großes Vorbild:
"Wenn der Westen das osmanische Kalifat nicht abgeschafft hätte, hätten nie diese seltsamen Terror-Blüten entstehen können, unter denen wir heute leiden! Schließlich war der letzte Sultan doch ein Kalif des Propheten!"
Das Osmanische Reich und der heutige Terror – unkonventionelle Ansichten, die aus dem zurückgezogenen Orden selten nach draußen dringen.
Misstrauen abbauen
Doch bei Außenstehenden erregt allein die nostalgische Kleidung Misstrauen. "Ach, die, die so komisch herumlaufen", meint etwa die Metzgerin naserümpfend, deren Geschäft hundert Meter von der "Osmanischen Herberge" entfernt liegt.
An der Eingangstür der "Herberge" hängt ein Plakat: "Tag der offenen Tür. dhikr mit Rockmusik!" Ein Versuch, Vorurteile zu entkräften. Vor einiger Zeit, kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001, war die "Herberge" von Polizeikräften gestürmt und durchsucht worden. Begründung war ein Terrorverdacht, der sich allerdings nicht erhärtete.
Kleidung als Identitätsgewinn
Die von Außenstehenden als anstößig empfundenen osmanischen Trachten sind eine Spezialität deutscher Sufis. Sogar für Sufis in der gegenwärtigen Türkei wären sie allerdings ungewöhnlich. Die altertümliche Kleidung habe damit zu tun, dass eine orientalische Religionspraxis in einen europäischen Alltag überführt wird, meint der Islamwissenschaftler Ludwig Schleßmann:
"Die deutsche Sufi-Bewegung hat sich immer wieder von anderen esoterischen Gruppen absetzen müssen, hat wieder zum Traditionalismus, zur Orthodoxie gefunden, und dann wiederum Kompromisse gemacht an Lebensgewohnheiten hier."
Kompromisse für die Alltagstauglichkeit
Den Naqschbandi-Anhängern werden "erdnahe" Berufe empfohlen, Landwirtschaft, Handwerk. Doch der Orden ist zu auch Kompromissen bereit. So müsse ein erfolgreicher Informatiker nicht aus einer Großstadt wegziehen und gegebenenfalls von Hartz IV leben, wenn er für "erdnahe" Berufe nicht geeignet ist.
Ein anderes Beispiel sind technische Neuerungen. Sie gelten als schädlich – zugleich nutzt man sie jedoch gerne. Die aufwändig gestaltete Internetseite der "Osmanischen Herberge" enthält Newsletter und podcasts.
Wandel der Zeit
Orthodoxie gegen Kompromissbereitschaft – was setzt sich durch? Schwer zu sagen, meint Schleßmann. Es herrsche eine starke, historisch gewachsene Eigendynamik, immerhin bestehe der Orden schon seit den 70er Jahren.
"Es gibt immer mehr Menschen, die seit langem dem Orden angehören, Familien gegründet und Kinder bekommen haben. Dann stellen sich wieder neue Fragen nach Erziehung, die den Orden dann prägen und gegebenenfalls festigen", so Schleßmann.
Thilo Guschas
© Qantara.de 2007
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