"Aufklärung ist nicht abgeschlossen"




Bielefeldt:
Rechtlich kann es keinen Sonderschutz für Muslime geben. Das ist Ausdruck ihrer Anerkennung als Gleiche in dieser Gesellschaft. Allerdings ist es eine Stilfrage, ob man berücksichtigt, dass viele Muslime bildungsfernen Schichten angehören und mit Provokationen weniger gut umgehen können.Der Schriftsteller Ralph Giordano warnt, dass Muslime in der Auseinandersetzung mit Ungläubigen eine religiös sanktionierte Erlaubnis zur Täuschung hätten.
Bielefeldt: Das ist eine gefährliche Ausgrenzung, wenn der Gegenseite eine strukturelle Verlogenheit unterstellt wird. Wer sich in diese Logik hineinbegibt, wird nicht mehr aus ihr herausfinden. Vielmehr ist jedem Gesprächspartner zunächst einmal Glaubwürdigkeit zu unterstellen, bis zum Beweis des Gegenteils.
Ist es zulässig, von Vertretern des Islams in Deutschland zu verlangen, dass sie sich zu den Werten des Grundgesetzes bekennen?
Bielefeldt: Das Grundgesetz ist die Grundlage für das Zusammenleben in Deutschland. Dazu muss sich auch eine Religion wie der Islam positiv verhalten. Ein ausdrückliches Bekenntnis sollte aber nur von Verbandsvertretern, nicht von einzelnen Muslimen eingefordert werden.
Warum?
Bielefeldt: Weil das Grundgesetz für hier aufgewachsene Muslime eine Selbstverständlichkeit ist. Ich kann verstehen, dass sie hilflos, überrascht und verärgert reagieren, wenn von ihnen - in einem oft inquisitorischen Ton - Sonderbekenntnisse verlangt werden. Niemand fragt einen christlich geprägten Menschen, wie sich bestimmte Stellen in der Bibel mit dem Grundgesetz vertragen.
Das mag ja sein. Aber im Koran heißt es ausdrücklich: "Männer stehen den Frauen in Verantwortung vor."
Bielefeldt: Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist eine unverbrüchliche Vorgabe des Grundgesetzes, an die sich auch Religionsgemeinschaften halten müssen, zum Beispiel wenn sie Religionsunterricht an öffentlichen Schulen erteilen wollen. Ansonsten ist es eine Aufgabe theologischer Interpretation, solche Koranverse mit den Vorgaben des Grundgesetzes in Einklang zu bringen.
Das Gleiche gilt ja auch für bestimmte Stellen in der Bibel, wo es etwa heißt: "Die Frau ist der Abglanz des Mannes." Entscheidend ist, dass im Ergebnis die Vorgaben des Grundgesetzes akzeptiert werden. Das Christentum mit seinen universitären Lehrstühlen ist dem europäischen Islam bei dieser akademisch-theologischen Aufgabe sicher voraus.
Tut sich der Islam dabei nicht auch deshalb schwerer, weil angenommen wird, der Koran sei wortwörtlich von Allah diktiert?
Bielefeldt: Das macht die Aufgabe sicher nicht einfacher. Aber auch schon bisher hat sich die islamische Theologie Spielräume erarbeitet, indem sie betont, dass bestimmte Aussagen des Korans im Bezug auf die Situation in einem mittelalterlichen Bürgerkrieg zu sehen sind - etwa wenn sie die Erlaubnis zur Mehrehe für Männer als damaligen Beitrag zur Versorgung von Witwen und Waisen einordnet.
Lässt sich das Christentum leichter in eine weltliche Ordnung einbinden, weil in der Bibel steht: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist"?
Bielefeldt: Das glauben wohl manche in den christlichen Kirchen. Sie übersehen aber, dass es auch im Christentum, insbesondere in der katholischen Kirche, ein langer konfliktreicher Prozess war, bis Menschenrechte und Religionsfreiheit voll anerkannt wurden. Die christlichen Kirchen haben gegenüber dem Islam also nur einen Erfahrungsvorsprung im Umgang mit dem säkularen Staat. Es wäre falsch zu sagen, die Christen haben die Aufklärung bereits hinter sich und der Islam hat sie noch vor sich. Vielmehr ist dieser Prozess bei beiden Religionen nicht abgeschlossen.
Interview: Christian Rath
© Die tageszeitung 2010
Der katholische Theologe und Philosoph Heiner Bielefeldt war Direktor des staatlich finanzierten Deutschen Instituts für Menschenrechte in Berlin. Im September übernahm er an der Universität Erlangen-Nürnberg den ersten deutschen Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik. Zum Thema veröffentlichte er u. a. das Buch "Muslime im säkularen Rechtsstaat - Integrationschancen durch Religionsfreiheit"
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