Für eine Streitkultur ohne Selbstgefälligkeit


Selbst wenn man die kulturellen Unterschiede nicht betonen will: Ohne Kampf gibt es keine Verschmelzung. Wenig spricht für die Annahme, dass die Mehrzahl der Menschen von alleine und freiwillig Anregungen bei anderen Kulturen sucht. Einzelne vielleicht, Kollektive aber sind schwerfällig. Wer für eine Vermischung der Kulturen ist, für wechselseitige Bereicherung plädiert, wird die Auseinandersetzung nicht nur nicht ausschließen und scheuen dürfen, er wird sie als Motor der Verschmelzung anerkennen.
Im Übrigen fällt auf, dass sich hinter dem Kampf um das richtige Bild vom Islam, besonders wenn er von westlichen Meinungsmachern und Medien geführt wird, oft ein Kampf um das richtige Bild vom Westen verbirgt. Es geht gar nicht so sehr darum, die Fremden in die Schranken zu weisen, sondern das Fremde im eigenen.
Man sieht es an der überraschenden Renaissance des Aufklärungsbegriffs. Zuletzt sprach vor 20 Jahren davon, als es darum ging, das althergebrachte Denken gegen die aus Frankreich einziehende postmoderne Unordnung zu verteidigen. Mittlerweile jedoch ist die Behauptung, dass der Islam keine Aufklärung kenne, zum Kulturkampfargument par excellence avanciert, und zwar keineswegs nur unter Intellektuellen, sondern bis in die Leserbriefspalten der Zeitungen hinein.
Fataler Zirkelschluss
Stimmt es denn, dass der Islam keine Aufklärung kennt? Die Antwort hängt davon ab, wie man Aufklärung definiert. Wenn man sie auf die Phänomene begrenzt, die ihre Entstehung in Europa begleitet haben, wird man sich selbstverständlich schwer damit tun, Ähnliches in der islamischen Welt zu finden. Genau das geschieht aber, und mit der Engführung des Aufklärungsbegriffs auf ein rein europäisches Phänomen wird der Islam essentialistisch festgeschrieben: Der Islam ist dann eben das, was keine Aufklärung kennt.
Der Zirkelschluss, der in einer solchen Aussage liegt, ist so offensichtlich, dass er leicht übersehen wird. Sucht man eine Aufklärung außerhalb von Europa, muss man zugestehen, dass es eine Art Aufklärung geben könnte, die sich nicht einfach auf die Trennung von Staat und Religion oder die Religionskritik ganz allgemein reduzieren lässt.
Die Aufklärung war schon in ihren Ursprüngen im Europa des 18. Jahrhunderts weitaus mehr als eine bloße Religionskritik. Obwohl auch Kant auf eine Religionskritik abzielt und ein Ausweg aus der Unmündigkeit auf Grundlage der Religion bei ihm nicht vorgesehen ist, erweist sich seine Definition von Aufklärung bei genauem Hinschauen als eine Ethik der Selbstkritik: "Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstands ohne Leitung eines anderen zu bedienen."
Nur wenn man die Aufklärung auf Religionskritik reduziert, taugt sie als Instrument im Kulturkampf gegen den Islam, und dann liegen die folgenden verheerenden Schlüsse nah: Der Islam kennt keine Aufklärung. Folglich sind die Muslime unmündig. Folglich brauchen sie einen Vormund. Es ist diese Logik, die die Vorherrschaft der europäischen Kolonialmächte ebenso gerechtfertigt hat wie heute die amerikanisch-europäische Vormundschaft in Irak und Afghanistan.
Wer den Westen und die eigene Position umstandslos mit der Aufklärung gleichsetzt, verdrängt zudem die bis weit ins 20. Jahrhundert gerade nicht von Aufklärung zeugende Geschichte Europas.
Aufklärung ist individuell
Dabei müssen wir gar nicht in die intellektuellen Tiefen von Horkheimer und Adornos "Dialektik der Aufklärung" abtauchen, um die Vorstellung, wir seien die Aufgeklärten, die anderen hingegen unaufgeklärt, als einigermaßen selbstgefällig zu entlarven. Es genügt, einen zweiten Blick in Kants berühmte Schrift "Was ist Aufklärung?" zu werfen. Dort heißt es (und zur Aktualisierung fügen wir zwei Halbsätze hinzu):
"Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Fernseher, der für mich quasselt, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Analytiker, der über mich nachdenkt, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."
Was von diesen Unmündigkeiten auch heute noch auf uns zutrifft, wird jeder am besten für sich selbst beantworten können. Wagen wir daher die Behauptung, dass die Verwendung des Begriffs Aufklärung in interkulturellen Zusammenhängen heller Unsinn ist. Im Namen der Aufklärung kann man nämlich alles und jeden kritisieren, den Islam ebenso wie den Papst, die Indianer ebenso wie den Nachbarn - oder, was im Sinne der Aufklärung am besten wäre, sich selbst.
Stefan Weidner
© Qantara.de 2008
Stefan Weidner, Übersetzer und Redakteur, lebt in Köln. Sein jüngstes Buch "Manual für den Kampf der Kulturen. Warum der Islam eine Herausforderung ist" ist vor kurzem im Verlag der Weltreligionen erschienen.
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