Ziviler Ungehorsam statt Gewalt
"Dank unserer Mischkultur unterscheidet sich der Islam in Indien von dem arabischer Länder", so Engineer. "Muslime sind hier eine Minderheit und schon die muslimischen Dynastien, die in Indien herrschten, mussten ihre Religiosität mäßigen, denn die Bevölkerungsmehrheit gehörte einer anderen Religionsgemeinschaft an", erklärt der Theologe.
Die indische Zivilisation und Kultur habe einen starken Einfluss auf den Islam, genau wie der Islam umgekehrt auch die indische Kultur beeinflusst habe.
Diese Tradition der Mischkultur greife auch heute noch: "Trotz des einflussreichen Hindu-Fundamentalismus hat sich die Mehrheit der Hindus nicht davon infizieren lassen", ist Engineer überzeugt, "die meisten Hindus sind sehr entgegenkommend und säkular."
Kutub Kidwai blickt skeptischer in die Zukunft. Sie befürchtet, dass verdrängte und ungesühnte Angriffe auf indische Muslime und ihre religiösen Stätten jüngere Glaubensbrüder radikalisieren. Jedenfalls benutzten auch die Attentäter von Mumbai diese Vorfälle, um ihre Tat zu rechtfertigen.
"Einer erwähnte während eines Interviews mit einem Fernsehsender die Zerstörung der Babri-Moschee von 1992 und das Pogrom gegen Muslime in Gujarat im Jahr 2002", so Kidwai. Er habe ein Ende der Grausamkeiten gegen Muslime gefordert.
"Wir müssen endlich begreifen, dass wir auch unsere internen Konflikte in Indien wahrnehmen müssen", insistiert Kidwai, "sonst werden andere daraus ihren Vorteil ziehen und versuchen, unsere Jugend in ihre Organisationen zu locken."
Ökonomische Gerechtigkeit als religiöser Auftrag
Aber Muslime in Indien sind nicht nur öfter brachialer Gewalt durch Hindu-Nationalisten und ausgesetzt, sondern haben im Vergleich zur hinduistischen Bevölkerungsmehrheit in Indien außerdem weniger Zugang zu Bildung, sind ärmer und im öffentlichen Dienst unterrepräsentiert.
Das zu ändern sei Teil seines religiösen Auftrags, so Engineer, denn auch der Islam betone die ökonomische Gerechtigkeit.
Die Lektüre von Werken des britischen Philosophen Bertrand Russel und von Karl Marx hat das Lebenswerk Engineers ebenfalls beeinflusst. Nach Engineers Auffassung hat Marx nicht die Religion an sich – sowie deren spirituellen Inhalt – verdammt, sondern ihre soziale Funktion.
Mit Karl Marx ist sich Ashgar Ali Engineer einig, dass Religion ein Instrument der Tyrannei sein kann, wenn sie benutzt wird, um Verhältnisse der Unterdrückung aufrecht zu erhalten, anstatt sie zu verändern.
In seinem Buch "Islam und Revolution" entwickelt Ashgar Ali Engineer die Perspektive einer Befreiungstheologie, die der Religion eine andere soziale Funktion zuweist, die Gerechtigkeit nicht im Jenseits, sondern im Hier und Jetzt verortet.
Dabei setzt Ashgar Ali Engineer nicht auf einen bewaffneten, heiligen Krieg, sondern auf gewaltfreie Aktionen des zivilen Ungehorsams, um den Formen der unmittelbaren und strukturellen Gewalt entgegen zu treten.
Für Kutub Kidwai ist Ashgar Ali Engineer ein großes Vorbild. "Manchmal nenne ich ihn einen modernen Sufi", sagt sie, "manchmal auch einen wahrhaftigen Gandhi".
Gerhard Klas
© Qantara.de 2009
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